Sechzehn Jahre wurde Deutschland von einer protestantischen Pfarrerstochter regiert. Das war gut für beide großen Kirchen und für die kleinen auch. Die kooperative Trennung von Staat und Kirche war keine formale Angelegenheit, sondern auch eine Herzenssache der politischen Eliten. Steht nun, mit dem Ende der Merkel-Ära ein Bruch im Verhältnis von Staat und Kirche, Gesellschaft und Gemeinden bevor? Nein. Denn der von Paul Nolte so genannte „politisch-kulturell-ethische Überlappungsraum“ zwischen Kirche und Politik ist weiterhin vorhanden, weil er sich nie auf eine Parteifamilie beschränkte. Aber er schrumpft.
Das Verhältnis von Kirche und Politik wird nüchterner und distanzierter werden. Ein Blick in den neuen Koalitionsvertrag bestätigt das, nicht nur in dem, was er sagt, sondern vor allem in dem, was er nicht mehr sagt. Von einer „Basis der christlichen Prägung unseres Landes“ gehen die neuen Koalitionäre, im Gegensatz zu denen von 2018 nicht mehr aus. Die Kirchen werden „geschätzt und geachtet“, aber dass sie mit ihrer Tradition und Botschaft das Land prägen würden, davon gehen die neu an die Macht gekommenen politischen Eliten nicht mehr aus. Das hat nicht nur mit deren parteipolitischer Prägung zu tun, sondern ist auch das Ergebnis von mehr als einer großen gesellschaftlichen Debatte über das „Ich“ und das „Wir“ in religiösen Dingen. Die vergangenen anderthalb Jahrzehnte waren weniger von unangefochtenem Christentum, als vielmehr von religionspolitischen und religiösen Konflikten durchzogen, die oft höchstrichterlich entschieden wurden und im Kern die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse entlang zweier großer Trends abbildeten. Die Säkularisierung im Sinne einer Schwächung von Religion einerseits und die religiöse Pluralisierung des Landes andererseits stecken das religionspolitische Feld heute ab.
Mit der protestantischen Pfarrerstochter an der Spitze säkularisierte, pluralisierte und liberalisierte sich die Gesellschaft, sie ist heute religiös und ethnisch vielfältiger, gegenüber der Institution Kirche indifferenter. Mit dem neuen Bundestag und seiner Zusammensetzung wird diese Veränderung auch im wichtigsten politischen Debattenforum der Republik deutlicher erkennbar. Auch hier mehr Diversität. Der Frauenanteil ist gestiegen, mehr junge Menschen, mehr Menschen mit migrantischen Wurzeln sind vertreten, mehr Muslime, mehr Säkulare. Gerade die regierenden Parteien weisen die größte Diversität auf.
Der Eindruck drängt sich auf, dass die Kirchen nach all den Jahren der Präsenz auf der großen politischen Bühne nur in Teilen gut vorbereitet sind auf die neue Vielfalt, die schon im Ansatz verspricht, eine konfliktreiche Zeit zu initiieren. Insofern schließt sich gerade ein „window of opportunity“, das die Kirchen hätten nutzen können, um Allfälliges zu erledigen, Neues zu wagen, sich auf Veränderungen einzustellen und die eigene Zukunftsfähigkeit abzusichern.
Was bedeutet die neue Gesellschaft, die neue politische Führung des Landes nun für die Kirchen? Die Ablösung der Staatsleistungen – wird kommen. Die Anpassung des Religionsverfassungsrechtes – wird kommen. Die weitere Liberalisierung der Lebensformen, einschließlich einer veränderten Abtreibungsregulierung – wird kommen. Hinzu treten die großen Krisen, die in den letzten Jahren gekommen sind, um zu bleiben. Da ist die anhaltende Krise der katholischen Kirche, ausgelöst durch den erschütternden sexuellen Missbrauch, die auch die evangelische Kirche nicht unberührt lässt, weil sie ihre eigene Aufarbeitung zu leisten hat, da ist die Erosion der demokratischen Kultur, da ist die Polarisierung der Gesellschaft in der Pandemie, und da sind nicht zuletzt die globalen Großkrisen des Klimas und der Migration.
Wenn gerade eine Ära im Verhältnis von Staat und Kirchen zu Ende geht, verlangt das nach einer Kultur des Abschieds. Der Perspektivwechsel aber wird Raum für Neues schaffen. Die Kirche wird eine Akteurin unter Vielen sein, aber eine mit besonderer Power, mit großer Unabhängigkeit und – im Vergleich zu vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren – mit enormen Ressourcen an Geld, Gebäude und Menschen. Dieses alles können die Kirchen proaktiv als zivilgesellschaftliche Akteure nutzen, für sich und für andere. Die Kirchen werden staatsferner werden, aber politiknah bleiben.
Drei Anregungen könnten für das Gelingen des Neuen brauchbar sein:
Erstens Netzwerke: Das Ausgreifen in gesellschaftliche Milieus, die das Land sozial und kulturell weiterentwickeln wollen, sollte verstärkt werden. Begonnen hat es schon. Die an die EKD-Spitze Gewählten repräsentieren eine neue Vielfältigkeit und einen Wechsel der Perspektiven. Genau diese Ausstrahlung von Offenheit und Neugier, von Experimentierfreudigkeit – Stichwort Präsestour – und Gelassenheit sind gute Zeichen, die ihre Wirkung auf anderen Ebenen der Kirche und in der Ökumene nicht verfehlen werden. Auch die Themen sind anschlussfähig – von der Bewahrung der Schöpfung über die öffentlichen Räume bis zur Sinnsuche und zur interreligiösen Glaubwürdigkeit.
Zum zweiten muss die Antwort auf die Großtrends von Säkularisierung und Pluralisierung verstärkte Aufmerksamkeit für den wichtigsten Wachstumsbereich der Kirchen sein – die Bildung. Konfessionelle Schulen, religiöse und christliche Bildung und Weiterbildung sind die schlafenden Riesen, mit denen Kirche einen erheblichen Beitrag, auch zum Zusammenhalt der Gesellschaft leisten kann.
Und die dritte Ebene ist das, was im politischen Raum die Think Tanks sind. Dort wird für Morgen gedacht. Die Evangelische Kirche hat nicht nur die Akademien, die FEST in Heidelberg, das SI in Hannover, die Kirche in der pluralen Zukunft nach vorn denken können. Und sie hat den Kirchentag an ihrer Seite, der schon immer ein Ort für das Neue und das neu zu Wagende war.
Dieser Beitrag erschien in einer längeren Version in „Zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“, Januar 2022.
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