Zum ersten Mal seit Langem hat eine neue Koalition einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der einige bemerkenswerte religions- und weltanschauungspolitische Vorhaben enthält. Als deren Ergebnis darf ein Abbau oder zumindest eine Modifizierung des bekannten Privilegienbündels der etablierten Religionsgemeinschaften vermutet werden. Ein komplementärer Aufbau eines neuen, stärker auf die Gleichbehandlung von Menschen aller religiösen Bekenntnisse und nichtreligiöser bzw. sich als humanistisch verortender Menschen ist allerdings im Vertragstext nicht angeschnitten worden.
Immerhin spricht der Koalitionsvertrag, was den gesellschaftspolitischen Grundklang angeht, die Sprache einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, in der freie Individuen möglichst selbstbestimmt über ihre Lebensführung entscheiden. Bereits bei der neuen Regelung der Sterbehilfe, die im Vertrag ausdrücklich erwähnt wird, wird sich erweisen, ob und inwieweit diese Grundhaltung auch in eine entsprechende ethische Ambition der Gesetzgebung einfließt. Das klare Urteil des Bundesverfassungsgerichts mag hierbei bereits einige Leitplanken liefern.
Weitreichend und ehrgeizig sind auch die strukturellen Vorhaben der Koalition im Politikfeld Religion und Weltanschauung. Von ihnen sind insbesondere drei hervorzuheben: 1. die Ablösung der historischen Staatsleistungen, 2. die Reform des kirchlichen Sonderstatus im Arbeitsrecht, und 3. Reformen im Zusammenhang mit der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts.
-
- Seit 100 Jahren ist die Ablösung der Staatsleistungen Verfassungsauftrag. Es ist den Koalitionär*innen hoch anzurechnen, dass sie diesen endlich einlösen wollen, und die Grundsätze für diese Ablösung aufstellen wollen. Dafür wurden in der vergangenen Legislatur bereits Vorarbeiten geleistet und ein von FDP, Grünen und Linken getragener Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Ablösung über eine Kapitalisierung und Abfindungszahlung vorschlägt. Die beiden großen Kirchen werden gegen die avisierte milliardenschwere Zahlung wohl nichts einzuwenden haben. Die Durchdeklination auch auf alle anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, deren staatliche Unterstützung oftmals auf einem Junktim mit den Staatsleistungen für die Kirchen beruht, wird eine Fülle von Rechtsfragen aufwerfen, die zu einer Herausforderung für die Landesregierungen werden dürften, und möglicherweise Rechtsgelehrt*innen und Gerichte einige Zeit beschäftigen werden.
- Das von Kirchen angewendete Arbeitsrecht ist an manchen Stellen aus den Fugen geraten. Dies wird öffentlich kaum mehr bestritten. Insbesondere die christlichen Sittenkodizes wirken heute aus der Zeit gefallen, erst recht, wenn sie zur Grundlage eines Arbeitsverhältnisses werden. Die angekündigte, sinnvolle Begrenzung des besonderen Tendenzschutzes auf einen eng gefassten Verkündigungsbereich erscheint somit überfällig. Allerdings wird die konkrete Fassung dieses Ausnahmebereichs noch für Diskussionen sorgen, denn er ist ohne Zweifel und nicht ohne Recht höchst umstritten. Offen sind auch die Fragen des kollektiven Arbeitsrechts, insbesondere die der Dienstherrenfähigkeit, des besonderen Status‘ der Kirchen- und weltanschaulichen Beamt*innen, sowie zentral die Frage der betrieblichen Mitbestimmung. Zudem sind nicht nur Religionsgemeinschaften hiervon direkt betroffen, sondern auch etliche öffentlich-rechtliche Weltanschauungsgemeinschaften, deren Besonderheiten und Interessen ebenfalls abzubilden sind. Man wird im weiteren Fortgang der politischen Diskussion sehen, wie viele Teufel hier in den vielen Details stecken.
- Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften leisten gleichermaßen wichtige soziale und gesellschaftliche Arbeit. Oftmals sind allerdings Organisationsfragen für die staatliche Unterstützung bedeutsam, und die „Kirchenförmigkeit“ der einschlägigen Rechtsbereiche steht einer wirklichen Gleichbehandlung im Weg. Oft sind es muslimische Gemeinschaften ebenso wie humanistische, die aufgrund ihrer anderen gelebten Kultur und unterschiedlicher Tradition einem „kirchenförmigen“ Rechtsraster nicht entsprechen können, sei es wegen einer angeblichen fehlenden geistlich autoritativen Figur, oder eines angeblich unzureichenden Zugehörigenkreises. Dies führt regelmäßig zu einer Diskriminierung von nicht-christlichen Bürger*innen, insbesondere muslimischen und humanistischen, gegenüber den christlichen. Vielfach sind hier Länderkompetenzen touchiert, weniger die des Bundes. Eine Reform der relevanten Rechtsformen bzw. der ihnen zugeordneten besonderen Eigenschaften kann jedoch immerhin einen Beitrag dazu leisten, diesen umfassenden Reformprozess anzustoßen.
Mit diesen koalitionären Punkten ist jedoch die Tagesordnung der Zivilgesellschaft noch nicht erledigt. Unverändert besteht die Herausforderung, den Bedürfnissen und Ansprüchen der weltanschaulich größten und stetig wachsenden Bevölkerungsgruppe gerecht zu werden, nämlich den Nichtreligiösen. Die Einführung eines regelmäßigen Dialogs der Regierung mit den weltanschaulichen Gruppierungen wäre eine geeignete erste Maßnahme, um den Kreis der zu bearbeitenden Themen zu erfassen und Reformbedarfe zu erörtern. Auf Bundesebene sind hierfür beispielsweise die Themen der Begabtenförderung, die Militär- und Bundespolizeiseelsorge, die Entwicklungshilfe bis hin zur angemessenen Repräsentanz in der staatlichen Erinnerungs- und Gedenkkultur anzusprechen. Außen- und menschenrechtspolitisch wäre zudem die Lage nichtreligiöser Menschen und der Schutz von Apostat*innen in bestimmten Ländern zu thematisieren.
Die neue Koalition lässt die Chance erkennen, den jahrzehntelangen Stillstand in der Religions- und Weltanschauungspolitik zu beenden. Würde endlich der Weg zu einer echten, fairen Pluralität der Religionen und Weltanschauungen in Deutschland eröffnet, wäre dies ein wahrhaft historisches Verdienst.
Johann-Albrecht Haupt
Verfasst am 15.02.2022 um 10:11 UhrLieber Herr Bauer!
Schön, dass auch Sie nochmal aufzählen, was die Ampelkoalition sich – vage – vorgenommen hat: Staatsleistungen, Arbeitsrecht (kirchlich), Rechtsform der Religionsgemeinschaften. Aber warum lassen Sie denn nicht, auch nicht ansatzweise, erkennen, welche Meinung Sie, Ihre Organisation vertritt.Zu sagen, dass es „eine Fülle von Rechtsfragen“ gibt, dass „viele Teufel in vielen Details“ stecken, dass man einen „umfassenden Reformprozess anstoßen“ müsse, reicht wohl kaum aus.
MfG
Hannes Haupt