Auf Basis des Koalitionsvertrages finden derzeit informelle Gespräche der zuständigen Ressorts von Bund und Ländern mit Kirchenvertretern dazu statt. Es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen eine solche Beendigung der finanziellen Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auf das in Deutschland funktionierende Kooperationsverhältnis zwischen diesen haben wird.
1. Unerfüllter Verfassungsauftrag seit 104 Jahren – warum?
Gemäß Art. 138 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung besteht seit nunmehr 104 Jahren ein konstitutioneller Auftrag, durch entsprechende Landes- und Bundesgesetze die „Staatsleistungen“ abzulösen. Dabei handelt sich um Geld- oder Naturalleistungen durch die Länder und Kommunen an die verschiedenen Korporationen der Evangelischen und Katholischen Kirchen, die zuletzt ein jährliches Volumen von ca. 548 Mio. Euro umfassten. Nach ihrem Ursprung handelt es sich um Ausgleichs- oder Ersatzleistungen des Staates für Säkularisationen (Enteignungen) der Kirchen im 16. bis 19. Jahrhundert. Auf Basis des Koalitionsvertrages finden derzeit informelle Gespräche der zuständigen Ressorts von Bund und Ländern mit Kirchenvertretern dazu statt. Die Gründe für den in so langer Zeit nicht ausgeführten Verfassungsauftrag liegen sicher zum einen an der Zurückhaltung der betroffenen Länder, einen Betrag von ca. 10 Mrd. Euro zur Ablösung auszukehren; zum anderen aber möglicherweise auch in dem Interesse, diese finanzielle Verflechtung und Form der Kooperation zwischen Staat und Religion nicht aufzugeben. Denn es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen eine solche Beendigung der finanziellen Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auf das in Deutschland funktionierende Kooperationsverhältnis zwischen diesen haben wird.
2. Kommunikation und Koordinierung zwischen Staat und Kirchen bei den Staatsleistungen
Das deutsche Religionsverfassungsrecht ist als ein kooperatives Konstrukt der säkularen Trennung von Staat und Religion ausgestaltet. Trotz dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben, die einen weltanschaulich neutralen Staat und eine grundsätzliche Trennung staatlicher und kirchlicher Sphären vorsehen, ist die Rechts- und Staatspraxis durch eine Kooperation zwischen dem Staat und den traditionellen Kirchen und auch anderen Religionsgemeinschaften sowie eine besondere Zusammenarbeit gekennzeichnet. Konkrete Gegenstände dieser Kooperation sind zum einen Angelegenheiten, die nach ihrer Natur nur im Zusammenwirken von Staat und Religionsgemeinschaft möglich sind (res mixtae): Religionsunterricht, theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten, Militärseelsorge, Anstaltsseelsorge, Kirchensteuer oder private Schulen in Trägerschaft von Religionsgemeinschaften. In staatlichen Angelegenheiten, auf die die Religionsgemeinschaften rechtlich betrachtet keinen Einfluss nehmen, kooperiert der Staat aber zur Optimierung von Lösungen, indem er mit ihnen oft und eng kommuniziert: dazu gehören die Staatsleistungen, hier räumt der Staat den Kirchen ein Mitspracherecht ein.
3. Gespräche zwischen Bund, Ländern und Kirchenvertretern
Im Koalitionsvertrag der regierenden Ampel-Koalition ist formuliert, dass im Dialog mit den Ländern und den Kirchen ein Grundsätzegesetz als ein „fairer Rahmen“ für die Ablösung geschaffen werden soll. In informellen Gesprächen der zuständigen Ressorts von Bund und Ländern mit Kirchenvertretern werden derzeit die wesentlichen Fragen erörtert. Dabei muss es darum gehen, das Grundsätzegesetz durch den Bund so auszugestalten, dass den Ländern eine finanzierbare und rechtlich tragfähige Umsetzung durch eigene Vereinbarungen mit den Kirchen und eigene Gesetze möglich sind. Und zugleich kann Inhalt der Gespräche sein, die Kirchen in deren eigenem Interesse zu beteiligen und zu einvernehmlichen Regelungen über die Ablösung zu führen; denn erst eine abschließende gesetzliche Ablösungsregelung, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, führt zu einer rechtsverbindlichen Ablösung.
4. Konkrete Verhandlungsgegenstände
In diesem so konkret wie vermutlich in 104 Jahren nicht betriebenen Prozess wird also ein schlankes Grundsätzegesetz des Bundes angestrebt, welches möglichst große Spielräume für individuelle Vereinbarungen zwischen Ländern und Religionsgemeinschaften schafft. Mögliche Verhandlungsgegenstände derzeitiger Regierungsgespräche sind etwa, Kriterien für ablösungspflichtige und nicht ablösungspflichtige Staatsleistungen festzulegen. Also, ob etwa die kommunalen Staatsleistungen (Kirchenbaulasten) und „negative“ Staatsleistungen (Steuer- und Abgabebefreiungen) in den Ablösungsmechanismus einbezogen werden oder lediglich positive Staatsleistungen geregelt werden. Auch gilt es, als Grundlage für die Regulierungen eine vollständige und geeinte Rechnungsgrundlage über durch die Länder geleistete Zahlungen zu erstellen, um eine präzise Bestimmung des Ablösungsgegenstands zu gewährleisten (Wertermittlung der Staatsleistungen). Weiterhin ist zu entscheiden, ob die Ablösung nach dem Äquivalenzprinzip/Angemessenheitsausgleich erfolgt sowie die generelle Wertermittlung der Staatsleistungen, die in Anlehnung an den Kapitalwert von wiederkehrenden Nutzungen und Leistungen nach § 13 Abs. 2 BewertungsG (Jahreswert x Faktor X) berechnet werden könnte. Eine Einigung über die Art des möglichen Wertausgleichs (Geld, Wertpapiere, Staatsanleihen, Grundstücke, bewegliche Sachen) ist ebenso notwendig, wie der zeitliche Horizont der Ablösung. Ob die Staatsleistungen, für die ein Landesgesetzgeber zuständig ist, jeweils auf einmal abgelöst werden, ist ebenso zu entscheiden, wie die Frage der Zahlungsmodalitäten (Ratenzahlungen) und eventuelle Präklusions- und Ausschlussregeln.
5. Das Ende der Staatsleistungen beendet keine Ungleichbehandlung
Durch die Ablösung würde die finanzielle Entflechtung von Staat und Kirche i. S. d. Art. 137 Abs. 1 WRV erreicht werden. Zum anderen sollen die Kirchen vor einer entschädigungslosen Beseitigung der Leistungspflichten geschützt werden. Bei den Staatsleistungen nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 WRV handelt es sich um historisch legitimierte Leistungen des Staates als Ausgleich für die Enteignung von Kirchengütern in der Frühneuzeit. Die zuweilen verwendete Argumentation, Staatsleistungen seien eine Bevorzugung der Evangelischen und Katholischen Kirchen gegenüber anderen Religionen wie Bekenntnis- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie nichtreligiösen gesellschaftlichen Gruppen und verstießen gegen das Gleichbehandlungsgebot, die Verpflichtung des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität sowie das Prinzip der Trennung von Staat und Religion, trägt nicht. Es handelt sich um Kompensationsleistungen an diese Kirchen für die Enteignung von Vermögenswerten und die daraufhin entstandenen Verluste von erwirtschafteten Erträgen.
6. Respice finem – bleibt das Ende eines Zusammenarbeitsbereiches ohne Wirkung auf das kooperative Modell?
Für den Staat bildet die Kooperation mit (nahezu allen) Religions-, Bekenntnis- und Weltanschauungsgemeinschaften und deren finanzielle Stabilität einen eigenen Mehrwert. Allgemein erfüllen Religionen bzw. Religionsgemeinschaften unmittelbar und mittelbar Gemeinwohlinteressen. Hinter dem Körperschaftsstatus, den mehr als 30 Religionsgemeinschaften besitzen, dem Religionsunterricht (auch jüdischer und islamischer Unterricht), den theologischen Fakultäten, der Militär- und Anstaltsseelsorge (für muslimische und jüdische Soldaten im Aufbau begriffen), dem Institut der Kirchensteuer oder privaten, religiösen Schulen verbirgt sich die Annahme sozialer Nützlichkeit von organisierter Religion. Sie verspricht dem Staat einen Gewinn an sozialer und möglicherweise auch ethisch-moralischer Stabilität. Insbesondere nimmt dies das Wirken im Bereich der kirchlichen Wohlfahrtspflege, d. h. im gesamten Spektrum der karitativen Aktivitäten in den Blick. Daher darf organisierte Religion auch als Komponente des Böckenförde-Diktums gesehen werden („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“), da die organisierten, korporierten und mitfinanzierten Religionsgemeinschaften Beiträge der (staatlichen) Daseinsvorsorge und Daseinsfürsorge erbringen, mit denen der Staat allein überfordert wäre (Krankenhäuser, Altenpflege, Kindergärten, Pflegeeinrichtungen, Schulen etc.). Sollte es tatsächlich zu einem erfolgreichen Ablösungsprozess der Staatsleistungen nach 104 Jahren kommen, bleibt abzuwarten, ob und welche Folgen sich damit für das durchaus erfolgreiche Kooperationsverhältnis von Staat und religiösen Gemeinschaften in Deutschland ergeben werden.
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