Das derzeitige Selbstverständnis der katholischen Kirche gerät zunehmend unter Druck. Aufgrund der steigenden Anzahl von Kirchenaustritten auch unter Mitarbeitenden in Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft wird das Verhältnis von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und weltlichen Arbeitsrecht in jüngerer Vergangenheit vermehrt im Rahmen arbeitsrechtlicher Verfahren erörtert – häufig zu Ungunsten der Kirche. Eine Neujustierung dieses Selbstverständnisses ist daher erforderlich.
Wenn ein börsennotiertes Unternehmen 520.000 Kundinnen und Kunden verliert, dann reagiert nicht nur der Aktienkurs, sondern vor allem das Management. Treten aus der katholischen Kirche 520.000 Mitglieder aus, bittet die oberste Führungsriege die verbliebenen Kirchenmitglieder nicht entmutigt zu sein![1] Erwartet wird weiterhin gläubige Folgsamkeit.
Was sagt dies über das Selbstverständnis der katholischen Kirche und das Selbstverständnis ihres Führungspersonals? Braucht es hier eine Neujustierung? Die Frage klingt rhetorisch. Doch der notwendige Diskurs wird aufgrund einer Veränderungsverweigerung der katholischen Bischöfe (siehe fehlende Umsetzung des synodalen Wegs) nicht mehr innerkirchlich ausgetragen, sondern gesellschaftlich-medial wie durch #OutInChurch und vor staatlichen (Arbeits-)Gerichten.
Der Kirchenaustritt – heute
Im Sinne der Folgsamkeit wird von katholischen Mitarbeitenden in der neuen Grundordnung für den kirchlichen Dienst vom 22. Januar 2022 erwartet, dass sie nicht aus der katholischen Kirche austreten. Aus theologischer Sicht sei dies in der Zusage der Unauflöslichkeit der Liebe Gottes im Sakrament der Taufe begründet. Diese und die damit gegebene Gemeinschaft könne und dürfe der getaufte Mensch nicht einseitig aufkündigen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat daher 2012 den Kirchenaustritt als eine „willentliche und wissentliche Distanzierung von der Kirche und eine schwere Verfehlung gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft“[2] bewertet.
Die Gründe für den Austritt sind vielfältig. Er ist meist keine spontane Entscheidung, sondern Ergebnis eines längeren Ringens mit sich selbst und der Kirche. Der Austritt wird dann von den Kirchenmitgliedern als das Resultat eines Entfremdungsprozesses wahrgenommen.[3] Dennoch kann eine Vielzahl von Austritten nicht als „willentliche und wissentliche Distanzierung“ bewertet werden. Dies gründet in der Praxis der Kleinkindtaufe. Mit Ende der Volkskirche haben viele traditionell getaufte Christinnen und Christen keine Bindung zur Kirche aufgebaut oder gar kein Identifikations- bzw. Bindungsangebot von der Kirche erfahren. So ist eine Zugehörigkeit zur Kirche ohne gelebte kirchliche Praxis eher der Normalfall. Den Kirchen fehlt bis heute eine Strategie, um auf die pastorale Herausforderung der religiösen Autonomie bei Wegfall klassischer kirchlicher Sozialisation in einer plural-säkularen Gesellschaft zu antworten. Wo sind die gewinnenden Angebote, die auf die individuellen und gesellschaftlich relevanten spirituellen und existenziellen Fragestellungen heutiger Menschen eingehen? Stattdessen verharren die Bischöfe offensichtlich der Erwartung der Folgsamkeit und setzen auf das kirchliche Arbeitsrecht.
Doch diese Kirche, mit der auf Erden das Himmelreich anbrechen soll, ist spätestens seit dem Bekanntwerden des flächendeckenden sexuellen Missbrauchs durch Kleriker und der institutionell gesteuerten Vertuschung durch Bischöfe zutiefst beschädigt und unglaubwürdig. Fehlende Machtkontrolle, die ausbleibende Gleichberechtigung der Frauen sowie echte Partizipation der Laien, eine ausgrenzend heterosexuelle Moral, Klerikalismus und Finanzskandale scheinen für Bischöfe kein Grund dafür zu sein, dass sogar zutiefst gläubige Menschen die Zugehörigkeit zur Kirche infrage stellen. Nicht nur die Caritas hatte im Vorfeld davor gewarnt, für katholische Mitarbeitende (berufliche und ehrenamtliche mit Organmitgliedschaft) eine dann als Zwangsmitgliedschaft wahrgenommene Kirchenzugehörigkeit in der neuen Grundordnung festzulegen.[4] Die Kirche muss ich fragen: Entspricht dieses Vorgehen wirklich ihrem Selbstverständnis?
Der EuGH ist wieder gefragt!
Ebenso muss sich der Staat im Kontext des Arbeitsrechts fragen lassen, in welchem Maß das grundgesetzlich verankerte kirchliche Selbstbestimmungsrecht die ebenso grundgesetzlich verbriefte religiöse Autonomie der Bürgerinnen und Bürger einschränken darf. Darf das kirchliche Arbeitsrecht in den Schranken der allgemeinen Gesetzgebung zur Durchsetzung einer Zwangsmitgliedschaft genutzt werden oder ist dies eine unzulässige Diskriminierung?[5]
Diese Fragestellung wird in der Anhörung zum sog. „Hebammenfall“ am 5. September dieses Jahres vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt. So trat die Hebamme aufgrund der Missbrauchsskandale aus der katholischen Kirche aus. Als der katholische Krankenhausträger hiervon Kenntnis erhielt, kündigte er der Mitarbeiterin. Zuvor hatte ein Krankenhauspfarrer der Hebamme eine christlich geprägte Gläubigkeit attestiert und ihre Weiterbeschäftigung empfohlen. Ihr professionelles berufliches Handeln und ihr christliches Ethos wurden somit nicht infrage gestellt. Nun sind in dem Krankenhaus auch konfessionslose Hebammen beschäftigt, sodass offenbar die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung keine notwendige berufliche Anforderung ist. Folgerichtig hat das Bundesarbeitsgericht daher eine Voranfrage an den EuGH gestellt. Verhandelt wird somit die Plausibilität der Anforderung einer Kirchenmitgliedschaft für die Wahrung des Selbstverständnisses des kirchlichen Trägers (Organisationsethos).
Glaubensgemeinschaft oder Überzeugungsgemeinschaft?
Auch wenn der Fall auf die alte, seit 2015 geltende Grundordnung bezogen ist, hat sich in der neuen Grundordnung von 2022 das kirchliche Selbstverständnis nicht gewandelt. Biblisch müssten die Bischöfe dem „verlorenen Schaf“ hinterhergehen. Stattdessen schlagen sie auch noch das Gatter zu und bedrohen dessen Lebensgrundlage. Zugleich werben die Bischöfe für eine neue Vielfalt in der Kirche und betonen: „Alle Mitarbeitenden können unabhängig von ihren konkreten Aufgaben, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihres Alters, ihrer Behinderung, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität und ihrer Lebensform Repräsentantinnen und Repräsentanten der unbedingten Liebe Gottes und damit einer den Menschen dienenden Kirche sein.“[6] Mitarbeitende sind nicht Teil einer Glaubensgemeinschaft, sondern nehmen für die Kirche durch Anstellung einen Auftrag wahr und bilden mit ihr eine auf Werte bezogene Überzeugungsgemeinschaft. Sie sind im Rahmen der Tätigkeit Teil eines Tendenzbetriebs und müssen für dessen Überzeugungen gewonnen werden. Es bedarf daher eines kontinuierlichen Diskurses zu den verbindlichen Handlungsorientierungen auf der Grundlage des christlichen Menschen- und Weltbildes. Der Wechsel vom personenbezogenen Ansatz (Berufung in die Kirche als Gläubige) zum institutionsbezogenen Ansatz (Mitarbeit am kirchlichen Auftrag) wird durch das Paradigma der Sanktionierung des Kirchenaustritts verletzt. Der Glaube ist kein rechtlich einzufordernder Zustand. Er ist ein beständiger Prozess der religiösen Selbstfindung, der durch eine Glaubensgemeinschaft gefördert und gestärkt werden kann. Die Kirche sollte es als Chance sehen, wenn ausgetretene Mitarbeitende bereit sind, ihre fachliche Kompetenz zur Erfüllung des kirchlichen Auftrages zur Verfügung zu stellen. Sie können im ehrenamtlichen, wie beruflichen Handeln auf neue Weise erfahren, wie eine glaubwürdige Kirche heute agiert.
Die Bischöfe müssen liefern!
Dazu braucht es kein kirchliches Arbeitsrecht, sondern einen überzeugenden tätigkeitsbezogenen Ansatz.[7] Mitarbeitende erwarten in der Tätigkeit entsprechende Werte und eine Praxis, mit der sie sich identifizieren und so eine Wertekohärenz eingehen können. Hier kann eine gemeinsame Motivation in der Vision von einer gerechteren und sozialen gesellschaftlichen Gestaltung wachsen. Die Bischöfe müssen darlegen, was eine christlich geprägte Professionalität für einzelne Tätigkeitsfelder bedeutet.[8] Aus pastoraler Sicht ist zu fragen: Wie gelingt es, konstruktiv auf Menschen zuzugehen, die, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten sind, ihren Dienst in Form einer beruflichen Tätigkeit anbieten und ihre Kompetenzen im Raum der Kirche zur Verfügung stellen wollen?
Statt sich der Frage der Eigenverantwortung für die massiven Austrittswellen zu stellen, den Dialog zu suchen, nach Ursachen zu forschen und die religiösen Bedürfnisse ausgetretener Katholiken zu erfragen, erleben wir einen fantasielosen, auf Gehorsam abgestellten Umgang mit diesen existenziellen Anfragen an die Kirche. Es fehlt seitens der Bischöfe die pastorale Initiative, als attraktive religiös begründete Dienstgemeinschaft erlebbar zu sein. Zu fragen ist aus kirchlicher Sicht: „Warum habt ihr uns verlassen?“[9]
Der EuGH wird die Plausibilität in Bezug auf eine gerechtfertigte Diskriminierung prüfen. Wie im Fall Egenberger dürfte der EuGH zu Ungunsten der katholischen Bischöfe entscheiden. Eine erneute Revision der Grundordnung für den kirchlichen Dienst stünde an und damit eine Neujustierung des kirchlichen Selbstverständnisses.
Bereits jetzt haben viele im kirchlichen Management – insbesondere in der Caritas – erkannt, dass eine wertschätzende Unternehmenskultur, faire und mitarbeiterfreundliche Arbeitsbedingungen, eine wertebezogene christlich geprägte Professionalität, die Erfahrung persönlicher Wirksamkeit und ein transparentes Führungshandeln der beste Ausdruck des christlichen Selbstverständnisses sind. Dafür begeistern sich Menschen.[10]
Fußnoten
↑1 | Vgl. o. A.: Bätzing: Kirchenaustrittszahlen alarmierend – Warnung vor Resignation, katholisch. de am 28.06.2023, unter: https://katholisch.de/artikel/45774-baetzing-kirchenaustrittszahlen-alarmierend-warnung-vor-resignation#:~:text=Der%20Limburger%20Bischof%20Georg%20B%C3%A4tzing,ist%2C%20laut%20Mitteilung%20seiner%20Di%C3%B6zese (abgerufen am 19.08.2023). |
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↑2 | Allgemeines Dekret der Deutschen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt vom 24.09.2012, abgedruckt in: Bier (Hrsg.), Der Kirchenaustritt. Rechtliches Problem und pastorale Herausforderung, Freiburg i. Br. 2013, 23 ff. |
↑3 | Vgl. Bistum Essen, Die Studie „Kirchenaustritt – oder nicht?, 2017, unter: https://zukunftsbild.bistum-essen.de/zukunftsbild-projekte/initiative-fuer-den-verbleib-in-der-kirche/die-studie (abgerufen am 19.08.2023). |
↑4 | Vgl. Art. 6 Abs. 5 und Art. 7 Abs. 4 und 5 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes, 2022, unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/VDD-Arbeitsrecht/Grundordnung-des-kirchlichen-Dienstes-22.-November-2022.pdf (abgerufen am 19.08.2023). |
↑5 | Im nationalen Recht gilt, soweit sich die Schutzbereiche der Glaubensfreiheit und der inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung überlagern, geht Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV als speziellere Norm dem Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insoweit vor, als er das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften der Schranke des für alle geltenden Gesetzes unterwirft (sog. Schrankenspezialität). Der EuGH hat mit Blick auf die Antidiskriminierungsrichtlinie Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 derart ausgelegt, dass die Kirche eine Ungleichbehandlung zwischen Beschäftigten in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit nur dann mit der Richtlinie im Einklang steht, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der Kirche wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, siehe EuGH, Urteil vom 11.09.2018, IR, C-68/17, ECLI:EU:C:2018:696. |
↑6 | Art 3 Abs. 2 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes, Fn. 4. |
↑7 | Lediglich für pastorale Dienste, Personen mit missio canonica oder mit einer die christliche Unternehmenskultur prägenden Tätigkeit (ggf. auch oberste Führungsebene) ist eine kirchliche Zugehörigkeit unabdingbar. |
↑8 | Zum Ansatz christlich geprägter Professionalität: Schrage, Bruno: Reif für das 21. Jahrhundert? Kritische Anfragen an die aktuelle Reform der Grundordnung, in: Hermann Reichold (Hrsg.): Die Grundordnung 2022 – ein neues Narrativ im kirchlichen Arbeitsrecht, Berlin 2023, S. 79–125. |
↑9 | Siehe Riegel, Ulrich/Faix, Tobias: Warum habt ihr uns verlassen? Empirische Befunde zum Kirchenaustritt und mögliche pastorale Konsequenzen, in: Lebendige Seelsorge 69 (2018) 5, S. 306–312. |
↑10 | Vgl. Boos, Marc: Wer aus der Kirche austritt, kann bei der Caritas christliche Werte vertreten, caritas.de am 24.04.2023, unter: https://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/jahrgang2023/artikel/wer-aus-der-kirche-austritt-kann-bei-der-caritas-christliche (abgerufen am 24.08.2023). |
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