Religiöse Neutralität des Staats: Abschied von einem Mythos

03. 05. 2024

Religiöse Neutralität des Staats gilt als Fundamentalprinzip moderner Rechtsstaatlichkeit. In der Umsetzung bietet es allerdings Schwierigkeiten. Diese gründen darin, dass alles und alle geprägt sind vom religiösen Erbe unserer Geschichte. Unter solchen Umständen gerät religiöse Neutralität zum «leeren» Versprechen. Als Alternative bietet sich «religiöse Toleranz» an. Sie steht für eine Haltung, die religiöse Prägungen nicht leugnet, sondern aus ihnen Orientierung und Gestaltungskraft schöpft.

Seit Jahrzehnten gilt die religiöse Neutralität des Staats in Deutschland (und auch in der Schweiz) als weithin unbestrittenes Fundamentalprinzip moderner Rechtsstaatlichkeit sowie als Garant für religiösen Frieden und religiöse Pluralität. An diesem Befund auch nur leise Zweifel zu äussern, gleicht schon fast einem Sakrileg. Es gibt allerdings berechtigte Gründe, dies trotzdem zu tun. 

Fundamentalprinzip ohne Fundament 

Zunächst ist bemerkenswert, dass man im deutschen Grundgesetz (ebenso in der Bundesverfassung der Schweiz) vergeblich nach einem Gebot religiöser Neutralität sucht. Angesichts der überragenden Bedeutung, die ihm von der herrschenden Rechtslehre mittlerweile bücherwandfüllend attestiert wird, ein überraschender Befund: ein Fundamentalprinzip ohne Fundament. Zu kümmern scheint dieses Paradox jedoch kaum jemanden. Vielmehr wird beschwichtigt, die religiöse Neutralität lasse sich mühelos aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit ableiten. Mühelos? Man kann es auch anders sehen: Die Religionsfreiheit wurde einst geschaffen, um der seit der Reformation grassierenden religiösen Intoleranz etwas entgegenzusetzen. Im Sinn hatte man in erster Linie mehr religiöse Toleranz. An ein Gebot religiöser Neutralität dachte damals niemand. Ein solches Jahrhunderte später aus der Religionsfreiheit abzuleiten, erscheint daher juristisch kühn und überdies in der Sache verfehlt. 

Dem Neutralitätsgebot mangelt es aber nicht nur an einem hinreichenden rechtlichen Fundament. Auch seine normativen Konturen bleiben eigenartig verschwommen. Sprachlich lässt der Begriff der Neutralität zwar wenig Interpretationsspielraum zu; die durch ihn geweckten Erwartungen sind klar: Neutral ist, wer in einer (Streit-)Sache keinen Standpunkt einnimmt. Bei genauerem Hinsehen kann einem nun freilich nicht entgehen, dass der Staat Mühe bekundet, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Immer wieder scheitern seine Bemühungen an der hiesigen Wirklichkeit, die von einer offenkundigen Symbiose und Verflochtenheit zwischen Religion, Kultur und Politik gekennzeichnet ist: Gottesanrufungen in Verfassungspräambeln und die Omnipräsenz jüdisch-christlicher Symbole in öffentlichen Gebäuden sind nur zwei der augenfälligsten Beispiele, die eine besondere Nähe des Staats zur jüdischen und zur christlichen Religion offenbaren. 

Fehlender psychologischer Blick 

Die Kluft zwischen Neutralitätsnorm und Neutralitätswirklichkeit wäre eigentlich Grund genug, um das Neutralitätsparadigma radikal zu hinterfragen. Stattdessen halten Lehre und Praxis unbeirrt daran fest. Dabei stützen sie sich wesentlich auf zwei Prämissen: Nach der ersten stellen Religion und Staat zwei voneinander strikt zu trennende Sphären dar. Auf die berühmte Kurzformel gebracht: «Religion ist Privatsache». Direkt daran anknüpfend geht die zweite Prämisse davon aus, dass staatliche Funktionär:innen in der Lage sind, ihre Amtsgeschäfte religiös neutral zu verrichten, indem sie sphärenfremde religiöse Impulse «als Fremdkörper» identifizieren und neutralisieren.

Dass diese beiden Prämissen und mit ihnen der Glaube an die prinzipielle Neutralitätsfähigkeit des Staates trotz aller Umsetzungsschwierigkeiten bis heute unangefochten blieben, mag viele Gründe haben. Ein ganz zentraler liegt in der chronischen «Unterpsychologisierung» der Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie. Es fehlt ihnen weitgehend eine psychologische Perspektive, die das vielschichtige und komplizierte Menschliche ins Sichtfeld rückt. Dies ist im vorliegenden Kontext besonders gravierend, weil der reale Mensch den Dreh- und Angelpunkt der religiösen Neutralität des Staats bildet. Oder auf eine simple Formel gebracht: ohne menschliche keine staatliche Neutralität. 

Bereits ein flüchtiger Blick auf die psychische Beschaffenheit des Menschen muss Zweifel an der Tragfähigkeit der beiden Prämissen und damit an der Neutralitätsfähigkeit von Mensch und Staat wecken: 

  • Zunächst wird deutlich, dass es zwischen staatlicher und religiöser Sphäre keine undurchlässige Trennwand gibt. Dort stehen staatliche Funktionär:innen, mithin normale Menschen, deren Normalität unter anderem darin besteht, dass Religiosität und Spiritualität zu ihrer psychischen Grundausstattung gehören. Sie sind demzufolge gleichzeitig in beiden Sphären verankert und entsprechend auch Impulsen von beiden Seiten ausgesetzt. Damit kommt es zu einer Sphärenverschmelzung. 
  • Dass staatliche Funktionär:innen unter diesen Umständen fähig sind, die auf sie einwirkenden religiösen Impulse von ihrer Tätigkeit fernzuhalten, erscheint aus psychologischer Sicht unwahrscheinlich. Das Bild des vernünftigen, sich seiner inneren Impulse mächtigen Menschen hat die Psychologie schon seit geraumer Zeit demontiert. Danach wird menschliches Denken, Fühlen und Handeln entscheidend vom Unbewussten gesteuert. Dieses weist im hiesigen sozialen Umfeld dominante jüdisch-christliche Prägungen auf. Die wirkmächtigen Impulse aus dem Unbewussten sind folglich nie religiös neutral. Melden sie sich, geschieht dies ungefragt und meist unbemerkt. Sie von der «Amtsstube» fernzuhalten, ist schwierig – um nicht zu sagen: unmöglich. 

Der Staat sollte sich nichts vormachen: Getragen und «belebt» von Menschen, die grossmehrheitlich jüdisch-christlich geprägt sind, wird er seine vermeintliche religiöse Neutralität nicht glaubwürdig unter Beweis stellen können. Sie erweist sich insoweit als «leeres, unerfüllbares Versprechen». Insgesamt schlechte Voraussetzungen, um weiterhin als religionspolitische Leitmaxime zu dienen. 

Was ist zu tun? Oder anders gefragt: Wie soll man mit einem Prinzip verfahren, das weder hinreichend rechtlich verankert noch glaubwürdig zu verwirklichen ist? Man gibt es mit Vorteil auf und sucht nach einem taugliche(re)n Ersatz.

Religiöse Toleranz als Alternative

Mit der «religiösen Toleranz» liegt eine mögliche Alternative griffbereit. Sie ist nicht nur eine Spielart der Neutralität, sondern ein Aliud: Während Neutralität in der Sache selber einen eigenen «Standpunkt» kategorisch ausschliesst, ist er für die Toleranz wesensbestimmend. Ein religiös toleranter Staat hat folglich einen ganz klaren «Stand-Punkt», von dem aus er agiert. Hierzulande ist das sein jüdisch-christliches Erbe. Dieses muss (und kann) er nicht leugnen, mit ihm verantwortungsvoll umgehen hingegen schon. 

Religiöse Toleranz verspricht als religionspolitische Leitmaxime eindeutig mehr und anderes als die reserviert-distanzierte religiöse Neutralität. Sie steht für ein aktives Verhalten, für einen Stil im Umgang mit religiös Andersdenkenden, der von Respekt, Wertschätzung und Lernbereitschaft geprägt ist. Die Zeiten, in denen Toleranz als «gnädiges Dulden» von etwas, das man im Innersten ablehnt, verstanden wurde, sollten längst passé sein.

So richtig plastisch wird das Gestaltungspotential religiöser Toleranz, wenn man zu ihrer Urquelle vordringt. Diese liegt in der Goldenen Regel der Menschlichkeit: «Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt.» Als überreligiöse, Jahrtausende alte universelle Lebensweisheit markiert sie einen moralischen Grundkonsens, der alle Weltreligionen und humanistischen Weltanschauungen miteinander verbindet. Ein Staat, der dies zur Basis seiner Religionspolitik macht, schafft wesentliche Grundbedingungen für ein friedliches Zusammenleben in der multireligiösen Gesellschaft.

Dieser Blogbeitrag skizziert eine These, die der Autor in den Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer (VVDStRL) eingehender dargelegt hat: Markus Müller, Neutralität als Verfassungsgebot? Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staats, in: Machtverschiebungen, VVDStRL, Band 81, Berlin 2022, S. 251 ff. 

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