Gruppen wie „Muslim Interaktiv“ und „Generation Islam“ drängten in den vergangenen Monaten mit islamistisch-identitärer Pose in den öffentlichen Raum, nutzen die Eskalation im Nahen Osten zur Stimmungsmache und preisen das Kalifat als Lösung aller Probleme. Seitdem sind Verbotsforderungen in aller Munde. Was ist davon zu halten?
Mit provokanten Plakaten, markigen Sprüchen und martialischem Auftreten sorgten Aufmärsche islamistisch-identitärer Gruppen in den vergangenen Monaten für ein riesiges Medienecho. Gleichzeitig haben diese Aufmärsche den Blick auf eine weltweit agierende islamistische Bewegung gelenkt, die „Hizb ut-Tahrir“ (HuT). Seit den 1990er Jahren agitieren HuT-Gruppen an deutschen Universitäten, versuchen hier muslimische Gruppierungen zu unterwandern und Kampagnen für vermeintlich islamische Anliegen zu organisieren. Nach dem 11. September 2001 wurden nicht nur ein aggressiveres Auftreten, sondern auch Verbindungen ins rechtsradikale Milieu offenkundig. Vor allem ein deutlicher Israelhass und die Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele führten Anfang 2003 zu einem Betätigungsverbot der Gruppe in Deutschland.
Infolge des Verbots entstanden ab 2014 eine Reihe von HuT-Tarnorganisationen mit jeweils unterschiedlichen regionalen und funktionalen Schwerpunkten. Während Praktiken der Tarnung und Unterwanderung auch bei diesen HuT-Nachfolgern prägend blieben, änderten sich Themen und Formen der Ansprache. Anders als die nach wie vor erfolgreichen salafistischen Prediger präsentieren sich die HuT-Nachfolger von Beginn an moderner und aktivistischer.
Identitärer Aktivismus
Dieser Aktivismus äußerte sich zunächst in aufwendigen Online-Kampagnen, u. a. gegen ein angeblich bevorstehendes Kopftuchverbot, gegen die französische „Assimilierungspolitik“ oder gegen Koran-Verbrennungen. Nach dem 7. Oktober 2023 gingen die Gruppen dann zunehmend auf die Straße. Anfang November 2023 demonstrierten 3000 Personen in Essen gegen den Gaza-Krieg und nebenher für das Kalifat als Lösung aller Probleme. Im April und Mai legte eine Hamburger Gruppe mit zwei viel beachteten Demonstrationen nach. Sowohl in Essen als auch in Hamburg zeigte sich das einheitliche Muster dieses Kalifats-Aktivismus: gezielte Provokation, stramme Organisation, einheitliches Auftreten und ein klares politisches Programm, unterfüttert von einem massiven Online-Auftritt.
Bemerkenswert an diesem Auftritt – online wie offline – ist vor allem die Inszenierung als Opfer. Vor allem die Demonstrationen von Hamburg adressierten über das Agitationsthema Nahostkonflikt das Narrativ einer Meinungsdiktatur. Auf zentral produzierten und verteilten Bannern werden „Meinungsvielfalt“, „Freiheit für Gaza“ und ein „Nein zur kolonialen Ordnung“ gefordert; immer begleitet vom Statement „Kalifat ist die Lösung“. Themen und Rhetorik sind wenig islamisch, knüpfen aber umso mehr an Diskriminierungserfahrungen und -narrative migrantischer Jugendlicher an. Populäre und (vermeintlich) progressive Diskurse werden imitiert, emotionalisiert und instrumentalisiert und über soziale Medien zu einfachen Botschaften reduziert.
Aber auch der Täter-Habitus der HuT-Nachfolger ist bemerkenswert. Die Frontmänner der Gruppen agieren nicht als religiöse Autoritäten, sondern als popkulturelle Führer einer migrantisch-identitären Jugendbewegung. Trendige Klamotten, Gangster-Pose, Rapper-Habitus, Sportwagen und Kampfsport gehören zum Image. Die Ansprache ist selbstbewusst, chauvinistisch und subkulturell. Die Feinde sind Medien, Demokratie, Amerika, Schwächlinge, Schwule und natürlich Israel. Nicht Anpassung, sondern Abgrenzung, lautet die Botschaft.
Politische Provokation
Die Rede vom Kalifat und das Schwenken von Fahnen im Look dschihadistischer Terrorgruppen sind vor allem Provokation und sollen Bilder für die eigene Online-Propaganda generieren. Der tatsächlichen Bedeutung der HuT-Gruppen innerhalb des islamistischen Spektrums in Deutschland entspricht dies nicht wirklich. Die HuT-Tarnorganisationen haben zwar Zulauf, die Gesamtzahl ihrer Unterstützer und selbst ihrer Follower in den sozialen Medien ist aber nach wie vor überschaubar. Auch eine Ausweitung der Aktivitäten über die bekannten regionalen Zentren ist bislang nicht erkennbar.
Trotzdem besteht kein Grund zur Entwarnung. Die Provokationen der Islam-Identitären auf deutschen Straßen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Tarnorganisationen einer verfassungsfeindlichen und nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen islamischen Staaten verbotenen Bewegung und Ideologie handelt. Ablehnung von verfassungsmäßiger Ordnung und gesellschaftlicher Teilhabe, offener Antisemitismus, der Ruf nach Regimewechseln und verklausuliert auch nach Gewalt machen die HuT und ihre Tarnorganisationen zur Gefahr für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 2023 weist zudem darauf hin, dass die von den HuT-Ablegern besetzten Themen im Rekrutierungsprozess islamistischer Organisationen eine wichtige Rolle spielen.
Verbote und andere Maßnahmen
Nach den Provokationen von Essen und Hamburg kamen daher sofort Verbotsforderungen auf, gefolgt von einer eigenartigen Diskussion, wie und wo Rufe nach dem Kalifat strafrechtlich relevant seien. Eigenartig sind diese Diskussionen deshalb, weil HuT (und damit auch ihre Nachfolgeorganisationen) in Deutschland längst verboten sind und weil islamistische Ideologien letztendlich immer eine Veränderung globaler Herrschaftsverhältnisse vorsehen.
Nicht Empörungen und Detaildebatten versprechen deshalb Abhilfe, sondern administratives Handeln, begleitet von einer breiten Strategie der Eindämmung. Vereins- und Demonstrationsverbote sind unumgängliche Elemente einer solchen Strategie. Allerdings lassen sich informelle Netzwerke und virale Erzählungen nicht verbieten. Was heute als „Muslim Interaktiv“ und „Generation Islam“ verboten wird, taucht morgen unter anderem Namen wieder auf. Mindestens ebenso wichtig im Kampf gegen die HuT ist deshalb das Verständnis für ideologische Hintergründe und Zusammenhänge und für personelle Verflechtungen. Mehr Forschung, mehr internationale Zusammenarbeit und gezieltere staatliche Straf- und Exekutivmaßnahmen gegen Organisationen und Einzelpersonen sind der richtige Weg gegen die Kalifatsbewegung in Deutschland.
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