Gerade in Zeiten des virulenten Antisemitismus taucht das Bild einer christlich-jüdischen Kultur im öffentlichen Gespräch auf, die es zu schützen gelte. Doch mit wie viel Möglichkeit für Selbstverständnis stattet die Gesellschaft jüdisches Leben aus? Einen Hinweis darauf bilden jüdische Feiertage.
Als der Soziologe Ernst Troeltsch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Verbindung von Kirche, Staat und Gesellschaft analysierte, verwies er hierzu auf das Moment gegenseitiger Durchdringung: Die religiöse Idee des Christentums kenne zunächst keine Vergemeinschaftung, zugunsten ihrer Aufrechterhaltung müsse eine sie konstituierende Gemeinschaft mit bestehenden Kulturumständen zusammengebracht werden. Gerade in Momenten gesellschaftlicher Umbrüche könne sich die Kirche mit ihren Kategorisierungsvorschlägen in die Etablierung einer neuen Ordnung einbringen.[1] So entsteht, was uns als christliche Kultur umgibt. Das luftige Bild einer christlich-jüdischen Kultur wäre entsprechend auf jene gegenseitige Durchdringung abzuklopfen. So könnte ein Schlaglicht darauf geworfen werden, inwiefern sich tatsächlich jüdisches Leben mit dieser christlich-jüdischen Kultur harmonisieren lässt. Als Oberfläche für eine solche Betrachtung bieten sich jüdische Feiertage an, weil diese den meisten jüdischen Gemeinden ähnlich sind und sich in ihnen die Sphären von Privatheit und Öffentlichkeit überschneiden.
Die öffentliche Debatte um die Bedeutung jüdischer Feiertage beschränkt sich in ihrer wahrnehmbarsten Form auf das wissenschaftliche Feld.[2] Angesichts von Divergenzen zwischen Prüfungsordnung und religiösen Anforderungen kommt es immer wieder zu einer Bewährungssituation für das Bild der christlich-jüdischen Kultur. Jüdische Studierendenverbände fordern bereits seit Jahren,[3] dass Prüfungen – zumal solche, die über ein ganzes Studium entscheiden – weder auf Shabbat noch auf einen der hohen Feiertage gelegt oder Alternativtermine angeboten werden.[4] Während es in Hessen bereits konkrete Lösungen gibt,[5] liegen in anderen Bundesländern noch keine eindeutigen Handlungsoptionen vor. In der auf das Studium folgenden Arbeitswelt setzt sich dies fort. Zwar gibt es in den Landesgesetzen festgeschriebene Möglichkeiten, dass Jüdinnen und Juden dem Arbeitsort fernbleiben – die zeitliche Limitierung reicht vom Besuch der Synagoge[6] bis hin zu einem ganzen Tag Abwesenheit.[7] Der Blick in den § 1 der Feiertagsgesetze offenbart in aller Regel jedoch, dass der Kanon der allgemeinen Feiertage keine jüdische Dimension besitzt; was nicht nur bedeutet, dass man zur Anmeldung der Ausnahme seine Religion zu offenbaren hat, sondern zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Abwesenheit, sei es aus betrieblichen Gründen, nicht gestattet wird. Auch aus Arbeitgebersicht herrscht eine uneindeutige Gemengelage.
Fragen ergeben sich zudem dort, wo Werktätigkeit an einem solchen Tag stattfindet, der nach geltendem Recht ein Feiertag ist. Beispielsweise in Berlin gehören ‚Spätis‘, kleine Verkaufsstellen, die 24/7 geöffnet haben, fest zum Stadtbild. Dabei unterliegen sie den geltenden Feiertags- und Ladenschlussgesetzen, nutzen jedoch im Landesgesetz festgeschriebene Ausnahmeregelungen,[8] um die Türen für ihre Kunden offenzuhalten. Von diesen Ausnahmeregeln machen teilweise ganze Supermärkte Gebrauch, die an Sonn- und Feiertagen geöffnet haben. Andererseits ist eine Ausnahme von der Feiertagsregelung dort nicht vorgesehen, wo sie lebenspraktisch Relevanz entfaltet: bei jüdischen Einkaufsläden. Dabei ergibt sich, was an einem solchen Geschäft ‚jüdisch‘ sein kann, nicht nur etwa aus kosheren Lebensmitteln. Nach jüdischem Verständnis erstreckt sich die wöchentliche Ruhezeit vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag. In der Zwischenzeit ist die Breite an Tätigkeiten, denen nachgegangen werden darf, erheblich eingeschränkt: Der Shabbat ist heilig und es herrscht ein Arbeitsverbot. Im Judentum gilt der als ‚Sonntag‘ bezeichnete Wochentag eben nicht als Ruhetag, womit er ein Arbeitstag wie jeder andere ist.
Um die Optik zu erweitern, lohnt ein Blick nach Israel: Zu Shabbat (oder anderen Feiertagen) haben fast alle Geschäfte geschlossen. Benötigt man als Tourist beispielsweise am Freitagabend ein Taxi, profitiert man von der nicht-jüdischen Bevölkerung des Landes, die unbekümmert ihren Geschäften nachgehen kann. Eine Ausnahme vom sonntäglichen Ladenschluss für jüdische Einkaufsläden gibt es in Deutschland jedoch nicht. Kann Deutschland hier vom multireligiösen Israel lernen? Oberflächlich gesprochen lautet die Antwort: in Teilen. Die Rahmenbedingungen divergieren natürlich. Die Ladenschluss- und Feiertagsgesetze dienen nicht nur der religiösen Entfaltung, sondern auch dem Schutz der Arbeitnehmer, der durch eine zu hohe Zahl an Ausnahmeregeln nicht sukzessive außer Kraft gesetzt werden soll. Ausnahmen hiervon sind auch nur dann konstruktiv, wenn die Länder dies gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden und Organen wie dem Zentralrat verhandeln. Während die Gesetzgeber sicher gut daran täten, mindestens festzustellen, ob eine entsprechende Ausnahmeregelung als zielführend erachtet oder gewünscht wird, wäre es genauso wichtig, keine Ausnahme zu erwirken, ohne dies mit denen zu besprechen, die mit einer solchen Gesetzesänderung aus etwas ausgenommen würden.
Die Frage lautet daher, inwieweit es gelingen könnte, mit einer Berücksichtigung jüdischer Feiertage als Ergänzung geltender Gesetze, Juden in Deutschland eine deutlichere bürgerschaftliche Emanzipation zu ermöglichen und dabei Religionsfreiheit einerseits mit bestehenden Feiertagen und Arbeitsschutz andererseits zu harmonisieren. Antisemitismus wird man damit nicht bekämpfen, Ladenschluss- oder Feiertagsgesetze sind dazu kein Mittel. Identität, Selbstverständnis zu bejahen und zu bekräftigen, richtet sich eben nicht an die (prospektiven) Täter, sondern ermöglicht Juden in Deutschland im besten Falle bessere Rahmenbedingungen, ihrer Lebensform Entfaltung zu verschaffen, damit diese tatsächlich ein selbstverständlicher Teil der Kultur wird. Die gegenwärtigen Brüche gesellschaftlicher Routinen könnten, Troeltsch folgend, einen Anknüpfungspunkt bieten, um die bloße Rede von der christlich-jüdischen Kultur mit der „normativen Kraft des Faktischen“[9] zu versehen. Dazu gehört gleichwohl zuallererst, dass als jüdisch identifizierbare Geschäfte sowie jüdische Studierende – jüdische Menschen überhaupt – nicht wie selbstverständlich Ziel antisemitischer Attacken werden.
Fußnoten
↑1 | Vgl. Troeltsch, Ernst (1994/1903): Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1994, S. 44, S. 14–15 und S. 976. |
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↑2 | Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags veröffentlichte zuletzt am 24. April 2023 ein Kurzgutachten zum Thema, siehe unter https://www.bundestag.de/resource/blob/952770/b8767b0a70bbddd21225f23f872cdab3/WD-8-023-23-pdf.pdf (abgerufen am 24.10.2024). |
↑3 | Vgl. Piorkowski, Christoph David (2020): Jüdisches Leben an den Hochschulen: Am Shabbat muss man sich nicht prüfen lassen, tagesspiegel.de am 18.06.2020, unter: https://www.tagesspiegel.de/wissen/am-schabbat-muss-man-sich-nicht-prufen-lassen-5850442.html (abgerufen am 24.10.2024); Witte, Leticia (2022): Uni-Prüfung am Schabbat oder Feiertag? Jüdische Allgemeine am 05.11.2022, unter https://www.juedische-allgemeine.de/religion/uni-pruefung-am-schabbat-oder-feiertag/ (abgerufen am 24.10.2024). |
↑4 | Anknüpfungspunkte hierfür sind auf Landesebene beispielsweise § 2 FeiertG BE als auch auf Bundesebene Art. 4 Abs. 2 GG. |
↑5 | Das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags verweist hierauf. |
↑6 | Vgl. § 2 FeiertG BE. |
↑7 | Vgl. § 6 FTG Bayern. |
↑8 | Vgl. Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe (o. D.): Ladenöffnungszeiten in Berlin, unter: https://www.berlin.de/sen/wirtschaft/branchen/handel/ladenoeffnungszeiten/ladenoeffnungszeiten-in-berlin-152543.php (abgerufen am 24.10.2024). |
↑9 | Kersten, Jens (2004): Warum Georg Jellinek? Georg Jellinek und die Staats- und Europarechtslehre der Gegenwart, in: Anter, Andreas (Hrsg.): Die normative Kraft des Faktischen, Baden-Baden 2004, S. 179–210, hier: S. 182. |
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