90 Jahre Reichskonkordat (Teil 2) – Das Konkordatsurteil als neuer Anfang?

25. 08. 2023

Das Reichskonkordat ist ein bis heute fortgeltender völkerrechtlicher Vertrag. Rechtsverbindlich festgestellt wurde dies durch das Bundesverfassungsgericht im März 1957 im Rahmen des sog. Konkordatsurteils. Die föderale Zuständigkeitsverteilung machte jedoch den Abschluss neuer Staatskirchenverträge in einigen Rechtsbereichen erforderlich.


Dieser Beitrag ist Bestandteil einer dreiteiligen Reihe.

Der offizielle Fundstellenachweis zu den völkerrechtlichen Vereinbarungen notiert das Reichskonkordat von 1933 auch im Jahre 2023 unter den fortgeltenden Völkerrechtsverträgen.[1] Damit ist das Reichskonkordat einer der wenigen auch heute noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden und fortgeltenden Verträgen. Da es sich um eine Vereinbarung mit dem Völkerrechtssubjekt Heiligen Stuhl und um einen Statusvertrag handelt, der wesentliche Aspekte des Verhältnisses von Staat und Kirche seinerzeit geregelt hat, kommt diesem Vertrag per se besondere Aufmerksamkeit zu. Bemerkenswert ist daher, weshalb und auf welche Weise nach 1945/49 bis zum Konkordatsurteil 1957 über die Fortgeltung des Reichskonkordats gestritten worden ist.[2] Relevant wurde die Fortgeltungsfrage auch beim Abschluss der neueren Staatskirchenverträge, insbesondere nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit (also sowohl den Verträgen der zweiten Generation nach 1949 als auch denen der dritten Generation nach 1989/90). Im Wechselspiel zwischen dem „alten“ Reichskonkordat und den „neueren“ Staatskirchenverträgen mit den Ländern lassen sich beachtliche Tendenzen zur Bestätigung und (subsidiären) Fortgeltung des Reichskonkordats beobachten.[3]

Es beeindruckt, mit welcher Verve im Parlamentarischen Rat, in anderen politischen Kontexten und nicht zuletzt im rechtswissenschaftlichen Schrifttum über die Fortgeltung des Reichskonkordats diskutiert worden ist.[4] Urteile des Bundesverfassungsgerichts beenden regelmäßig autoritativ zumindest rechtspraktisch und -politisch Kontroversen durch Entscheidung, wenngleich diese dann ein Anfang für weitere kritische Diskussionen sind. So war es auch im Fall des Reichskonkordats. Nachdem im Parlamentarischen Rat die Frage der Fortgeltung des Reichskonkordats nicht wirklich abschließend durch die Verfassungsnorm Art. 123 GG geklärt worden war, musste das Rechtsproblem virulent bleiben. Und selbst das Konkordatsurteil vom 26. März 1957 war durchaus ambivalent.[5] Das Bundesverfassungsgericht beurteilte die Fortgeltung des Reichskonkordats losgelöst von historisch-moralischen Bewertungen allein anhand des formell ordnungsgemäßen Transformationsaktes zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses.[6] Da auch das Deutsche Reich als Vertragspartner nicht untergegangen war, konnte angesichts der „Subjektidentität“[7] der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich das Konkordat fortgelten.[8] Das Manko des Karlsruher Richterspruchs blieb, dass angesichts des kompetenziellen Auseinanderfallens von Vertragspartnerschaft und Gesetzgebungshoheit (vor allem im Bereich des Schulrechts als Hausgut der Bundesländer und Ausdruck ihrer „Kulturhoheit“) die Aufsicht des Bundes über die Einhaltung des Reichskonkordats durch die Länder in diesem Punkt nicht effektiv ausgeübt werden konnte. Das Konkordatsurteil kappte die Verpflichtung und Verantwortung zwischen Bund und Ländern und schlug dem Bund dabei auch das Instrumentarium aus der Hand, die völkerrechtliche Vertragstreuepflicht gesamtstaatlich gegenüber einem Gliedstaat – z. B. im Wege des Grundsatzes der sog. Bundestreue – geltend zu machen.[9] Da das Gericht über eine unmittelbare Verpflichtung der einzelnen Bundesländer aus dem Reichskonkordat „nicht autoritativ befunden“ hatte,[10] klaffte hier zudem eine Geltungslücke, die anfänglich durch Argumentationsfiguren wie der Funktionsnachfolge kompensiert werden sollte.[11] Gerade im Schulsektor konnte das Reichskonkordat seine Wirkung nicht mehr fortsetzen. Das Konkordatsurteil stieß damit die Neuregelung des Schulbereichs durch neue katholische Staatskirchenverträge an, für die das Niedersächsische Konkordat repräsentativ steht.[12] Damit wurde die Entwicklung in Gang gesetzt, in unterschiedlichen Formulierungen ein ausdrückliches vertragsgemäßes Fortgeltungsanerkenntnis zu normieren,[13] welches ggf. die subsidiäre Geltung des Reichskonkordats bei den Landesmaterien konstituiert, wenn nicht die Staatskirchenverträge der zweiten und dritten Generation die entsprechenden Rechtsmaterien gemäß der Kompetenzordnung des Grundgesetzes überhaupt durch umfassende neue vertragliche Absprachen ersetzen. Die Fortgeltungsbedeutung des Reichskonkordats ist damit in den Kultur- und Schulfragen stark relativiert und der übliche deutsche föderale Pfad zur staatskirchenvertragsrechtlichen Regelung dieser Materien wieder betreten worden. Die subsidiäre Funktion des Reichskonkordats[14] etwa bei den Schulfragen darf aber nicht übersehen lassen, dass eine Reihe von Regelungsmaterien dieses Vertrags nach wie vor in die gesamtstaatliche Zuständigkeit fallen und nicht ihre Relevanz verloren haben.[15] Entlastet von der Problematik einer konfessionellen Gestaltung des Schulwesens, steht das Reichskonkordat nach Alexander Hollerbach seitdem durchaus „in ruhiger Geltung“.[16]

 

Hier finden Sie Teil 1 der Beitragsreihe „90 Jahre Reichskonkordat“. Hier gelangen Sie zu Teil 3.

Fußnoten

Fußnoten
1 Bundesgesetzblatt Teil II, Fundstellennachweis B, 2023, S. 79.
2 Die bereits im ersten Teil des Blogs genannte Hamburger Dissertation von Jan H. Wille „Das Reichskonkordat. Ein Staatskirchenvertrag zwischen Diktatur und Demokratie 1933-1957“, die 2024 erscheinen soll, dürfte hier erhebliche Aufklärung bringen.
3 Vgl. Ansgar Hense, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zu Grundgesetz, 176. Aktualisierung/Dezember 2015, Art. 123 Rn. 92 ff.
4 Ausführlichere Darstellung bei Hense (Fn. 3), Art. 123 Rn. 9 ff.
5 Von nach wie vor großer Bedeutung ist der Besprechungsaufsatz von Joseph H. Kaiser, Die Erfüllung der völkerrechtlichen Verträge des Bundes durch die Länder, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches und Völkerrecht (ZaöVR) 18 (1957/58), 526–558.
6 BVerfGE 6, 309 (332 f.).
7 Zu diesem Topos der Teso-Beschluss BVerfGE 77, 137 (155 f., 160).
8 BVerfGE 6, 309 (338).
9 Hense (Fn. 3), Art. 123 Rn. 91.
10 So Alexander Hollerbach, Artikel ‚Reichskonkordat (II.)‘, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1988), Sp. 789.
11 Vgl. Karl-Otto Hütter, Bindung der Länder an die Schulbestimmungen des Reichskonkordats von 1933: Rechtsnachfolge oder Funktionsnachfolge, Münster 1964.
12 Zu diesem Aspekt näher Ansgar Hense, Sechzig Jahre Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Bausteine zur Rekonstruktion des Kontextes und seine Folgewirkungen, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart – Neue Folge 65 (2017), S. 357 (382 ff.).
13 Zu den unterschiedlichen Formulierungen siehe Hense (Fn. 3), Art. 123 Rn. 95 m. w. N.
14 Treffend dazu Jan H. Wille, 90 Jahre Reichskonkordat: Ein ewig gültiger „Teufelspakt“?, katholisch.de am 20. Juli 2023, unter: https://www.katholisch.de/artikel/46112-90-jahre-reichskonkordat-ein-ewig-gueltiger-teufelspakt (abgerufen am 03.08.2023): „Der Vertrag besitzt heute überwiegend eine doppelte subsidiäre Bedeutung, einmal als rechtliche Versicherung der Kirche, falls der Staat entscheidende Rechtspositionen etwa durch eine Verfassungsänderung in Frage stellt, und daneben als Normreserve des Staat-Kirche-Verhältnisses, falls nämlich Gegenstände auf Landesebene nicht geregelt sind, dann greifen die Bestimmungen des Reichskonkordates.“
15 Deutlich Dieter Scheven, Staatskirchenverträge mit den katholischen Bistümern, Juristenzeitung 1964, 643 (645).
16 Hollerbach (Fn. 10), Sp. 789 (791).

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