Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es betrifft nicht nur die sog. großen Kirchen (römisch-katholische und evangelische Kirche), sondern mehr oder weniger jeden gesellschaftlichen Bereich, nicht zuletzt die Familien. Wie Aufarbeitung im Interesse der Betroffenen sexualisierter Gewalt in den Kirchen gelingen kann, die sehr sensibel auf staatliche Interventionen reagieren, ist nicht nur eine politische Frage, sondern auch eine rechtliche Herausforderung.
Drei Dimensionen der Aufarbeitung
Aufarbeitung geht dem „Warum“ des erlittenen Unrechts nach, und zwar in dreifacher, sich ergänzender Hinsicht.[1] Der individuellen Aufarbeitung, die die Betroffenen sexualisierter Gewalt im Blick hat, geht es um die Frage: Warum ist einem bestimmten Menschen Unrecht widerfahren? Die institutionelle Aufarbeitung, die die Institutionen adressiert, widmet sich der Frage: Warum haben Menschen gerade in dieser Institution Unrecht erfahren? Die Frage der gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung, die das politische Gemeinwesen als Ganzes adressiert, lautet: Warum hat es die Gesellschaft einschließlich des Staates, in dem sich die Gesellschaft organisiert, nicht interessiert, dass Menschen in einer bestimmten Institution Unrecht erlitten haben? „Institution“ steht als Sammelbegriff für alle organisierten Handlungszusammenhänge, etwa Einrichtungen, in denen es zu sexualisierter Gewalt (sexuellem Missbrauch) gekommen ist oder die sexualisierte Gewalt (sexuellen Missbrauch) geduldet bzw. nicht verhindert haben. Das sind Religionsgemeinschaften („große“ Kirchen und „kleine“ religiöse Vereinigungen), Sportvereine, Heime, Einrichtungen von Diakonie, Caritas und anderen Trägern der Wohlfahrtspflege, Schulen, Pfadfinderverbände, Jugendämter, staatliche Aufsichtsbehörden usw. Aufarbeitung in diesem Sinne ist etwas anderes als strafrechtliche Aufklärung, die bei verstorbenen Personen, gegen die Vorwürfe erhoben werden, ohnehin keine Option ist. Aufarbeitung ist auch etwas anderes als Prävention bzw. das Erarbeiten von Schutzkonzepten. Es geht um heute erwachsene Menschen, die als Kinder sexualisierte Gewalt erlitten haben, was aufgearbeitet werden soll.
Grundrecht auf Aufarbeitung
Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt hat ein verfassungsrechtliches Fundament.[2] Die Aufarbeitung der von Gewalterfahrungen geprägten Lebensgeschichte wird vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) geschützt. Zu wissen, unter welchen Bedingungen es im Kindes- oder Jugendalter zu Gewalt gekommen ist und wer das Unrecht zu verantworten hat (auch, weil naheliegende Schutzmaßnahmen unterlassen wurden), kann für das Selbstverständnis der Person im Lebenslauf von großer Bedeutung sein. Hinzu kommt unter dem Aspekt der grundrechtlichen Schutzpflicht insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine Pflicht des Staates, sexualisierte Gewalt zu verhindern, und, wo dies nicht gelingt, die Verarbeitung der Folgen von Taten, die die Integrität einer Person beeinträchtigt haben, zu fördern und so den Umgang der betroffenen Person mit dem erlittenen Unrecht zu unterstützen. Auch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Grundrecht auf Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) folgt ein grundrechtlicher Anspruch auf Hilfe und (auch: finanzielle) Unterstützung. Aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das ebenfalls aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird, folgt das Recht, die Aufklärung des Unrechts mitzubestimmen, soweit es um Daten geht, die die eigene Person betreffen.
Gesetzgeberische Ausgestaltungspflicht
Dieses aus unterschiedlichen Garantiegehalten gebildete „Grundrecht auf Aufarbeitung“ ist ein normgeprägtes Grundrecht, das durch den parlamentarischen Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene ausgestaltet werden muss. Das gilt insbesondere mit Blick auf das sog. kirchliche (richtig: religionsgesellschaftliche) Selbstbestimmungs- bzw. Selbstordnungsrecht. Es wird häufig als scheinbar unüberwindliche Hürde für eine stärkere Intervention in den kirchlichen Bereich bezeichnet, obgleich die neuere verfassungsrechtliche Entwicklung für eine großzügige Beschränkbarkeit des kirchlichen Selbstordnungsrechts spricht.[3]
So dürfen staatliche Regelungen z. B. auch für die Kirchen definieren, was unter „Aufarbeitung“ zu verstehen ist. Der Staat darf ferner Qualitätsstandards auch für die Arbeit kirchlicher Aufarbeitungskommissionen festlegen. Das betrifft etwa die Arbeitsfähigkeit (Geschäftsstelle, Budget), die äußere und innere Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder, den Zugang zu Akten, das Verhältnis von Aufarbeitung und Prävention, Zeitplan und Ziele der Kommissionsarbeit, die Information der Öffentlichkeit, aber auch Standards für wissenschaftliche Aufarbeitungsprojekte und deren Finanzierung. Der vom Bundeskabinett im Juni 2024 verabschiedete Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“, dessen Artikel 1 das „Gesetz zur Einrichtung der oder des Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (Antimissbrauchsbeauftragtengesetz – UBSKMG)“ enthält,[4] verzichtet auf Regelungen, die die Kirchen (aber auch andere gesellschaftliche Bereiche, etwa den organisierten Sport) bei der Aufarbeitung an die rechtsstaatliche Hand nehmen. Die Betroffenen, die sexualisierte Gewalt im Raum der Kirchen erlitten haben und eine effektive Aufarbeitung erwarten, die von den Kirchen nicht verzögert oder sonst manipuliert werden kann, lässt dieser Gesetzentwurf im Stich.
Mehr Rechtsstaat wagen – auch gegenüber den Kirchen
Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, hat auf die Frage „Was empfehlen Sie den Kirchen bei der Aufarbeitung?“ geantwortet: „Sie können nur mit schonungsloser Offenheit agieren, ohne Rücksicht auf die Institution, auf tote oder auch auf lebende Personen. […] Die Frage ist, wie gut man beraten ist, die Aufarbeitung selbst in die Hand zu nehmen. Man ist in eigener Sache immer befangen und es gibt stets einen bestimmten Grad institutioneller Schuld, die die jeweilige Institution nicht selbst bearbeiten kann.“[5] Dieser Maxime könnte der staatliche Gesetzgeber, wenn er wollte, folgen. Einer stärkeren Inpflichtnahme steht nicht das zutreffend verstandene Grundgesetz entgegen, sondern nur der politische Unwille, die Kirchen rechtsstaatlicher Kontrolle zu unterwerfen.
Fußnoten
↑1 | Rixen (2024): Regeln guter wissenschaftlicher Praxis für Aufarbeitungsprojekte – insbesondere zu äußerungs- und datenschutzrechtlichen Aspekten der Veröffentlichung von Aufarbeitungsberichten, in: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.): Rechtliche Aspekte der Aufarbeitung – Beiträge im Spannungsfeld von Persönlichkeits- und Äußerungsrecht, Datenschutz und Wissenschaftsfreiheit, S. 20–33, unter: https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Rechtliche-Aspekte-der-Aufarbeitung_Aufarbeitungskommission_2024_bf.pdf (abgerufen am 23.09.2024). |
---|---|
↑2 | Rixen (2023): Gibt es ein (Grund-)Recht auf Aufarbeitung? In: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.), Tagungsband: Aufarbeitung, Akten, Archive – zum Umgang mit sensiblen Dokumenten, S. 55–61, unter: https://www.aufarbeitungskommission.de/wp-content/uploads/Tagungsband_Aufarbeitung_Akten_Archive_bf.pdf (abgerufen am 23.09.2024). |
↑3 | Rixen (2024): Sexualisierte Gewalt in der römisch-katholischen Kirche: Folgen für das sog. kirchliche Selbstbestimmungsrecht?, SozialRecht aktuell (SRa), 28. Jg (2024) (im Erscheinen, abrufbar unter https://beck-online.beck.de); Rixen (2024): Rechtliche Probleme der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche, in: Kron / Rohrkamp / Lehmann (Hrsg.), Kirche und Gewalt. Ursachen – Dimensionen – Folgen, (im Erscheinen). |
↑4 | Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Stand: 19.06.2024, unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/241312/4cb3d835c074ce27dae550d57ed11186/gesetzentwurf-ubskm-kabinett-data.pdf (abgerufen am 23.09.2024). |
↑5 | Limperg/Naurath (2023): Ein Gespräch mit der Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Limperg: „Partizipative Beteiligung erzeugt Bindungskräfte“, Herder Korrespondenz, Heft 9, 77. Jg. (2023), S. 19–22, hier: S. 21. |
Kommentare