Christlicher Religionsunterricht in Niedersachsen als Beispiel ökumenischer Bildungsverantwortung

09. 03. 2023

Im Frühjahr 2021 startete in Niedersachsen ein öffentlicher Beratungsprozess über die Einrichtung eines neuen Schulfachs „Christlicher Religionsunterricht“ (CRU), dessen Zwischenergebnisse im Oktober 2022 auf einem Fachsymposium in Hannover zusammengeführt wurden. Im Januar 2023 haben die beteiligten Kirchenleitungen die niedersächsische Landesregierung um die Aufnahme von offiziellen Verhandlungen zur Einführung des CRU gebeten. Was verbirgt sich hinter diesem neuen Kürzel und was ist zukünftig zu erwarten?

Wenn man bedenkt, dass sich die christlichen Kirchen aller Konfessionen hierzulande zunehmend mit ihrer Rolle als gesellschaftliche Minderheit und mit dem Verlust öffentlicher Relevanz arrangieren müssen, scheint aus ihrer Perspektive die Einrichtung eines ökumenisch verantworteten, gemeinsamen Religionsunterrichts folgerichtig. Er stellt eine adäquate Alternative zu herkömmlichen Modellen des schulischen RU dar, der den Müttern und Vätern des Grundgesetzes noch selbstverständlich als konfessionell getrennter Unterricht (vgl. Art 7 Abs. 3) vor Augen stand und auch viele Jahrzehnte so realisiert worden ist.

Mit dem CRU haben die katholischen Bistümer und die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen eine Idee aufgenommen, die schon lange im Raum stand.[1] Sie reagieren damit auf verschiedene Prozesse: die religionsdemographischen Veränderungen in einem Bundesland, in dem sich die Konfessionen je unterschiedlich auf einem sehr deutlichen Weg in Minderheitensituationen befinden oder schon sind; die Entwicklungen im ökumenischen Gespräch und die Profilierung des RU als Teil einer größeren Ökumene; die Weiterentwicklung des seit 1998 erfolgreich praktizierten, aber didaktisch wenig profilierten Modells der konfessionellen Kooperation (kokoRU).[2]

Der öffentliche Beratungsprozess hat mittlerweile ein Stadium erreicht, in dem zahlreiche Pro- und Contra-Argumente auf dem Tisch liegen. Problematische Aspekte wie etwa die weitgehende Ausblendung orthodoxen Christentums oder strukturelle Konsequenzen für die Lehrerbildungsinstitute an den Universitäten, sind weitgehend identifiziert und harren noch einer befriedigenden Bearbeitung. Eine aktuelle Bewertung des Modells ist und bleibt daher ambivalent. Während den einen der Schritt schon zu weit geht (Stichwort: den Status quo halten), fordern die anderen viel weiterreichende Lösungen (Stichwort: interreligiöser RU). Offenkundig aber ist, dass die bisherigen Organisationsformen des schulischen RU angefragt sind und dass sich der RU verändern muss und auch wird, so er denn auch zukünftig existieren soll.[3] Denn das herkömmliche Modell eines konfessionshomogenen RU funktioniert aus vielerlei Gründen immer weniger, und auch das Modell konfessioneller Kooperation erscheint vielerorts nur als eine Zwischenlösung.[4]

Ob sich die Praxis des CRU gegenüber der des kokoRU signifikant verändern wird, dürfte allerdings in hohem Maße davon abhängen, wie der weitere Prozess inhaltlich gestaltet wird. Auf der Konzeptebene wird der CRU im Unterschied zum kokoRU von Anfang an ökumenisch plausibilisiert; das heißt Christentum wird nicht primär entlang von konfessionellen Differenzlinien verstanden, sondern vom gemeinsamen Bekenntnis aus, gleichwohl ohne auf eine konfessionelle Differenzsensibilität zu verzichten. Ob konfessionelle Differenz und Profilierung hier und da, insbesondere seitens der kirchlichen Gesprächspartner, mitunter zu dominant gesetzt werden, ist durchaus möglich und bleibt kritisch zu beobachten. Die gegenwärtig wohl größte Aufgabe besteht darin, auf allen Ebenen genau das einzulösen, was den CRU zukunftsfähig werden lassen kann: ökumenische Absichten auch politisch wirksam werden zu lassen; eine grundständig neue Curriculumsentwicklung für religiöse Bildung auf christlicher Grundlage zu wagen, in der die Konfessionen sekundär hinzutreten und nicht umgekehrt; eine ökumenisch verantwortete Schulbuchentwicklung unter der notwendigen Voraussetzung adäquater Zulassungsverfahren der Kirchen zu ermöglichen; eine ökumenisch profilierte Lehrerbildung in allen Phasen zu konzipieren u. a. m..

Was heute schon zählt: Mit ihrem Eintreten für ein neues gemeinsam verantwortetes Schulfach werden die beteiligten Kirchen mehr als je zuvor einer ökumenischen Bildungsverantwortung gerecht, in der sie auch einen Beitrag zum ökumenischen Dialog leisten, und zwar „auf der Ebene ökumenischer Verständigung durch gemeinsames Handeln“.[5]

Fußnoten

Fußnoten
1 Eine Übersicht über den gesamten Beratungsprozess sowie das Positionspapier vom Mai 2021 und andere Dokumente sind abrufbar unter: https://www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/christlicherRU, (abgerufen am 01.03.2023).
2 Zu Letzterem vgl. einführend Jan Woppowa, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht, in: U. Kropač / U. Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 198-204 sowie für einen größeren Überblick und zur Vertiefung Bernd Schröder / Jan Woppowa (Hg.), Theologie für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Ein Handbuch, Tübingen 2021, 3-61.
3 Vgl. dazu bspw. die versammelten Beiträge in: Andreas Kubik/Susanne Klinger/Coşkun Sağlam (Hg.), Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG, Göttingen 2022.
4 Gegenüber dem kokoRU wird dem CRU sogar eine größere Kongruenz mit Art. 7 Abs. 3 GG bescheinigt, weil hier in eindeutiger Weise ein gemeinsames Bekenntnis, nämlich das christliche, zugrunde gelegt wird und er somit seine bekenntnismäßige Positivität voll ausweisen kann und mindestens für alle christlichen Schülerinnen und Schüler ein RU ihres gemeinsamen Bekenntnisses darstellt. Vgl. dazu das Rechtsgutachten von Ralf Poscher, ebenfalls abrufbar unter: https://www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/christlicherRU, (abgerufen am 01.03.2023)
5 Schröder & Woppowa, S. 56.

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