Seit Anfang Mai 2022 liegen die Entwürfe der Grundordnung für den kirchlichen Dienst und die dazugehörige Erläuterung der Deutschen Bischöfe vor. Erstmalig sind in einem breiten Beteiligungsprozess die Diözesen, die katholischen Verbände, die Dienstgeber_innen- und Dienstnehmer_innenvertreter, die Caritas und die Orden gebeten, beim Verband der Diözesen Deutschland (VDD) zu diesen Entwürfen Stellung zu beziehen. Es geht um nicht weniger als das kirchliche Arbeitsrecht und somit die bindenden Vorgaben für 790.000 berufliche und ebenso viele ehrenamtliche Mitarbeitende.
Stellen Sie sich vor, ein Weltkonzern würde um neue Mitarbeitende in Deutschland mit dem Slogan werben: „Sie müssen künftig keine Angst mehr haben, wenn Sie bei uns arbeiten!“ So der einhellige Tenor bei der Fachtagung „Semper Reformanda – Religionspolitische Reformperspektiven für die Kirchen“ zum „Entwurf der neuen Grundordnung für den kirchlichen Dienst“ (im Folgenden: GrO-Entwurf)[1] an der Humboldt-Universität zu Berlin im Juni 2022. Man konzedierte fast schon euphorisch, Mitarbeitende bei der Katholischen Kirche können ihre sexuelle Orientierung, ihre Lebenspartnerschaft(en) privat ohne Angst leben. Möglich wird dies, da künftig zwischen der privaten Lebensführung und dem beruflichen Handeln im GrO-Entwurf unterschieden werden soll. Aber was privat gelebt wird, darf nicht öffentlich und schon gar nicht im dienstlichen Kontext propagiert werden, wenn es den Grundsätzen der Kirche widerspricht. Hier endet die bürgerliche Freiheit der kirchlichen Mitarbeitenden und das kirchliche Bekenntnis zur Diversität im säkularen Staat. Und wer als Mitarbeiter_in katholisch ist, die oder der sollte auch künftig den Kirchenaustritt nicht angstfrei erwägen oder vollziehen, es sei denn, sie oder er tritt zu einer anderen christlichen Gliedkirche (ACK) über oder ist Opfer sexuellen Missbrauchs.[2]
Zwischen kirchenrechtlichem Pragmatismus und institutioneller Totalität
In Reaktion auf die öffentliche Empörung zur Initiative #OutInChurch wurden mit großem Pragmatismus die strittigen Loyalitätsobliegenheiten bezüglich der persönlichen Lebensführung gestrichen. Das war überfällig. Zugleich wurde die dahinterstehende Theologie der kirchlichen Zugehörigkeit und Folgsamkeit reaktiviert. Gerade konservative Kräfte wollen weiterhin den Zugriff auf die Person der Mitarbeitenden und ihre Lebensführung. Dies zeigt aktuell die Kritik des Kirchenrechtlers Markus Graulich: Wenn keine „der Sittenlehre der Kirche entsprechenden Ansprüche mehr an die Mitarbeiter gestellt werden – wozu braucht es dann noch ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht?“[3] Da ist der Totalitätsanspruch der kirchlichen Institution, die versucht, das Arbeitsrecht zur Durchsetzung der katholischen Sittenlehre zu instrumentalisieren.
Das neue alte Narrativ: Sendung der Kirche!
Theologisch wie juristisch wurde der entscheidende Schritt, die christlichen bzw. kirchlich-konfessionellen Anforderungen tätigkeitsbezogen darzulegen, unterlassen. Dies hat der EuGH mit dem Begriff des Ethos im Fall Egenberger gefordert. Diese Perspektive würde es den Bischöfen ermöglichen, ein gewinnendes Narrativ aus dem kirchlichen Selbstverständnis zu entwickeln. Stattdessen wurde wie 1983 in der ersten Erklärung der Deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst der untaugliche Versuch unternommen, eine unabhängig von der jeweiligen Tätigkeit für alle Mitarbeitenden der Kirche geltende Grundordnung zu entwerfen. So schreibt Ricardi 2003 rückblickend:
„Während die Erklärung aus dem Jahr 1983 die Anforderungen an den Mitarbeiter nur allgemein umschrieb, geht die Neufassung (1993 Anm. BS) ausführlich auf sie ein. Sie berücksichtigt, dass sich nach der Aufgabe der Einrichtung und ihrer Stellung in der Kirche richtet, welche Anforderungen ein Mitarbeiter erfüllen muss. Die Abstufung vorzunehmen ist, wie das Bundesverfassungsgericht dem Bundesarbeitsgericht vorgehalten hat, nicht Sache des Staates, sondern richtet sich nach den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben.“[4]
Schon damals hatte das Bundesverfassungsgericht im Urteil von 4. Juni 1985 eine Totalität des konfessionellen Zugriffs auf alle Mitarbeitenden relativiert. Das Verfassungsgericht legte Wert auf die Kontrolle und Einhaltung geltender Rechtsprinzipien der staatlichen Ordnung, der gerichtlichen Überprüfung nach Maßgabe der arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzvorschriften sowie der Berücksichtigung der gebotenen Schwere des Verstoßes. In der Folge kam es 1993 zur GrO mit einer gestuften Sicht auf die Mitarbeitenden je nach religiöser Beheimatung und Tätigkeit. Erstaunlich daher, wenn der neue GrO-Entwurf nun in hierarchischer Auflistung vom Kleriker bis zur Ehrenamtlichen alle als Mitarbeitende benennt und sie unter das alte Narrativ der „Sendung der Kirche“ stellt (vgl. Art. 2 Abs. 1 bis 3 GrO-Entwurf). Dieser Sendungsauftrag wird somit exklusiv gebunden an die Kirche in ihrer institutionellen Verfasstheit. Er umfasst „alle in den Einrichtungen der Kirche Tätigen, gleich ob sie „haupt- oder ehrenamtlich, leitend oder ausführend beschäftigt sind, […] Christen, andersgläubige oder religiös ungebundene Mitarbeitende“ (Art. 2 Abs. 2 GrO-Entwurf). Dies geschieht unter dem Stichwort der Botschaft des Reich Gottes, die aber eben nicht entfaltet wird. Stattdessen braucht die Sendung in ihrer Konkretisierung die besondere Verbundenheit der kirchlichen Einrichtungen „mit ihren Amtsträgern“ (Art. 1 Abs. 2 GrO-Entwurf). Alle Mitarbeitenden werden dann im Modus der „Einladung“ Teil der Grundvollzüge der Kirche. Wer also im IT/EDV-Bereich oder in der Pflege arbeitet, wird wie der Pastorale Dienst oder die ehrenamtliche Pfarrgemeinderatsvorsitzende aus Sicht des Anstellungsträgers Kirche Teil ihrer „Verkündigung und Verbreitung des Evangeliums (kerygma-martyria)“, der „gemeinsamen gottesdienstlichen Feiern (leiturgia), des Dienstes am Mitmenschen (diakonia) sowie der gelebten Gemeinschaft (koinonia)“ (Art. 2 Abs. 4 GrO-Entwurf).
Institutionsverständnis schlägt christliche Praxis
Hier wird bereits deutlich, der GrO-Entwurf zielt auf die Passung der Mitarbeitenden zu einem wenig reflektierten vorgegebenen Verständnis der Kirche als Institution bzw. Trägerin von Einrichtungen und Diensten. Der Institutionsanspruch überdeckt den Auftrag und die damit verbundene christliche Praxis. Es geht vielmehr um Zugehörigkeit und somit eine spürbare Vereinnahmung von sogar Andersgläubigen oder Religionslosen in das System Kirche. Genau dies aber ist hoch übergriffig, da Religion anders als ein beruflicher Anstellungsvertrag, immer Zugriff auf die ganze Person – sozusagen ihr Heil – nehmen will. Diese Spannung wird nicht aufgelöst, sondern lediglich kaschiert. Die 1993 gewählte Stufung nach Tätigkeiten und differenzierter Religionszugehörigkeit wird nunmehr wieder nivelliert. Das Bekenntnis zur Diversität wird eingefangen im Modus der kirchlichen Sendung und somit ekklesial harmonisiert und beruflich privatisiert.
Wer definiert das kirchliche Selbstverständnis?
In der aktuellen Diskussion steht der Normtext, die Grundordnung für den kirchlichen Dienst, im Vordergrund des Interesses. Vernachlässigt wird die „Erklärung der Deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst“ im wenig transparenten Beteiligungsprozess des Verbands der Diözesen Deutschlands. Aber genau diese „Erklärung“ lieferte bisher die theologische Grundlage für die auf ihr fußende arbeitsrechtliche Konkretisierung, die Grundordnung für den kirchlichen Dienst. Ist aber diese theologische Grundlage des kirchlichen Selbstverständnisses inkonsistent, wird auch die juristische Textfassung, der Normtext, unzureichend. Dessen Grundlage – der normbegründende theologische Grundtext – wurde von der Begleitgruppe der bischöflichen Arbeitsgruppe Arbeitsrecht von einer „Erklärung“ zur „Erläuterung der Deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst“ (im Folgenden: „Erläuterungen“[5]) degradiert. Sie soll künftig als eine Art Glossar zum GrO-Entwurf dienen.[6] Ein einmaliger Vorgang, getrieben von dem Ziel, zu einem schnellen Ergebnis zu kommen. Der Preis aber ist hoch: Es ist fraglich, ob der GrO-Entwurf überhaupt noch eine konsistente theologische Selbstbeschreibung der Katholischen Kirche und aller Bischöfe widerspiegelt. Dies ist aber eine notwendige Voraussetzung für die Simultangesetzgebung in allen Diözesen Deutschlands. Weiter lässt diese kleine begriffliche Rochade offen, welche Dignität die „Erläuterungen“ als Rechtserkenntnisquelle zur Auslegung der GrO haben soll. Denn die „Erläuterungen“ zeigen eine weitaus engere Auslegung des kirchlichen Arbeitsrechts. Sie dürfte heutigen Arbeiternehmer_innen wie auch den vielfältigen ehrenamtlichen Mitarbeitenden zu Recht Angst machen. Was, wenn die Bischöfe Deutschlands diese „Erläuterungen“ gemeinsam mit dem Normtext des GrO-Entwurfs in ihren diözesanen Amtsblättern veröffentlichen und somit als Rechtsmaterie mit bischöflicher Autorität versehen?
Dies ist ein Beitrag einer dreiteiligen Reihe.
Lesen Sie hier den zweiten Teil
Fußnoten
↑1 | Entwurf der neuen Grundordnung für den kirchlichen Dienst (Stand 06.05.2022), unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2022/2022-086a-Grundordnung-des-kirchlichen-Dienstes-Entwurfsfassung-vom-06.05.2022.pdf (abgerufen am 4.8.2022). |
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↑2 | Vgl. Entwurf der Bischöflichen Erläuterungen zum kirchlichen Dienst (Stand 27.05.2022), unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2022/2022-086b-Bischoefliche-Erlaeuterungen-zum-kirchlichen-Dienst-Entwurfsfassung-vom-27.05.2022.pdf (abgerufen am 4.8.2022), S. 18 f. |
↑3 | Graulich, Markus: Nicht mehr kirchlich? in: Herder Korrespondenz 8 (2022), S. 6. |
↑4 | Ricardi, Reinhard (2003): Die Entstehung der Grundordnung für die Arbeitsverhältnisse, in: de Wall/Germann (Hrsg.): Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link, Tübingen, S. 152 f. |
↑5 | Entwurf der Bischöflichen Erläuterungen zum kirchlichen Dienst (Stand 27.05.2022), unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2022/2022-086b-Bischoefliche-Erlaeuterungen-zum-kirchlichen-Dienst-Entwurfsfassung-vom-27.05.2022.pdf (abgerufen am 4.8.2022). |
↑6 | So bezeichnet von Mitgliedern der Begleitgruppe auf den Hirschbergergesprächen im Mai 2022. |
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