Nach der Erfahrung des russischen Überfalls auf die Ukraine muss die evangelische Friedensethik neu angeschaut werden. In den Kirchen wird die Forderung laut, über die Fragen von Frieden, Freiheit und Verteidigung neu nachzudenken. Der Autor teilt diese Einschätzung. Seine These: Frieden, der mit Unfreiheit, Tyrannei und Unterwerfung unter das Unrecht erkauft wird, ist kein Frieden. Er ist weder nachhaltig noch gerecht.
„’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre und rede du darein!“ Unser Erschrecken hat sich nicht verändert, seitdem Matthias Claudius vor 244 Jahren sein eindrückliches Kriegslied schrieb. Ohnmächtig wenden sich Menschen an Gott und bitten um das Ende des Leides, das wir selbst nicht beenden können. Im Gebet hoffen wir, dass da einer ist, der Gewalt und Unrecht beendet. Es wird viel für den Frieden in der Ukraine gebetet; auch wir in der Militärseelsorge, auch ich als Militärbischof bete mit.
Mich überrascht der Fortgang des eben zitierten Kriegsliedes: „’s ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!“ Das irritiert, das passt nicht zur aktuellen Situation. Wir wissen heute, wer schuld ist, der Aggressor steht eindeutig fest. Aber hat es seinerzeit gepasst? Was brachte einen frommen Journalisten und Lyriker dazu, sich überhaupt mit dem Gedanken möglicher eigener Kriegsschuld zu beschäftigen? Soweit wir wissen, war Claudius kein Aggressor.
Evangelische Friedensethik stellt genau dieselbe Frage: Hat dieser Krieg vielleicht doch etwas mit uns zu tun? Hat unser Verhalten zur aktuellen Situation beigetragen? Haben wir Schuld durch Tun oder Unterlassen auf uns geladen? Und – viel entscheidender: Wie können wir durch unser Verhalten zum Frieden beitragen? Was sollen wir tun und unterlassen, um das Morden zu beenden und die Welt für die Zukunft zu einem friedlicheren Ort zu machen?
Nach der Erfahrung des russischen Überfalls auf die Ukraine muss die evangelische Friedensethik neu angeschaut werden. In unseren Kirchen wird die Forderung laut, über die Fragen von Frieden, Freiheit und Verteidigung ganz neu nachzudenken. Ich teile diese Forderung ausdrücklich. Ich gehe nicht so weit zu behaupten, der latente Pazifismus der westlichen Gesellschaften habe die Aggression erst möglich gemacht. Zu schnell würde so eine These die Schuld der Aggressoren relativieren. Aber, so ehrlich müssen wir sein: Verhindert haben unsere Diplomatie, unsere Appelle an die europäische Idee, unsere Partnerschaft für den Frieden und der Glaube an Wandel durch Handel die Aggression auch nicht.
2007 hat die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ herausgebracht. Ihr Konzept des gerechten Friedens mit seinen vier Dimensionen und die Haltung zur rechtserhaltenden Gewalt als ultima ratio sind noch aktuell. Als nicht mehr aktuell empfinde ich jedoch eine Grundhaltung, die ich lange Jahre in unseren Diskussionen wahrgenommen habe: dass es ohne handfeste Verteidigungsbereitschaft dauerhaft möglich sei, in Frieden und Freiheit zu leben. Für viele ist der Ukraine-Schock ein böses Erwachen aus diesem Traum.
„Bis 2014 war die Mehrheit der protestantischen Gemeinden in der Ukraine pazifistisch“, sagte mir ein Bischof aus der Ukraine, „heute beten wir auch darum, dass der Ukraine auch Verteidigungssysteme gegeben werden, mit deren Hilfe Menschenleben gerettet werden können.“
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr fragen sich, was diese Situation für sie bedeutet. Welche Amtshilfe ist für humanitäre Maßnahmen und Flüchtlingshilfe möglich? Gibt es einen Weg, die Ukraine gegen die Aggression zu unterstützen, ohne zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen? Gibt es Ausrüstung, mit der wir wirksam helfen können, ohne zur Kriegspartei zu werden und einen Weltkrieg auszulösen? Die Bundesregierung berät diese Fragen. Das muss in enger Abstimmung mit unseren internationalen Partnern und mit Augenmaß geschehen.
Hinter diesen aktuellen Fragen sehe ich noch eine andere. Die Bilder vom Maidan in Kiew 2013 / 2014 gehen mir nicht aus dem Kopf. Vor acht Jahren ging ein Volk auf die Straße, bis zu 800.000 demonstrierten für die Freiheit. Das hat mich begeistert, das hat unsere Herzen bewegt. Den Preis dafür zahlen sie heute. Wäre es besser, sich dem Aggressor zu ergeben? Die „afghanische Lösung“?
Die Menschen in Kiew sehen das – nach allem, was wir zurzeit wissen können – anders. Sie wollen erhalten, was sie erkämpft haben. Frieden, der mit Unfreiheit, Tyrannei und Unterwerfung unter das Unrecht erkauft wird, ist kein Frieden. Er ist nicht nachhaltig – und ganz bestimmt ist er nicht gerecht.
Wie wäre es, wenn ich selbst diese Frage beantworten müsste? Die Menschen in der Bundeswehr haben sie bereits beantwortet, mit ihrem Diensteid oder im feierlichen Gelöbnis: Recht und Freiheit sind genauso verteidigenswert wie die äußere Sicherheit. Für diese Klarheit bin ich der Bundeswehr und unseren Soldatinnen und Soldaten dankbar.
Jetzt liegt es auch an den Kirchen, diese Frage in einer neuen friedensethischen Kultur zu beantworten. Wir haben in den 1980er Jahren einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung der gesellschaftlichen Haltung gehabt und wir sollten auch heute unsere Mitarbeit nicht verweigern.
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