Kündigung wegen Kirchenaustritt – die neue Vorlagefrage an den EuGH

16. 09. 2024

Aufgrund von öffentlichem Druck und von Gerichtsurteilen erkennen die beiden christlichen Kirchen in Deutschland individuelle Grundrechte ihrer Beschäftigten inzwischen stärker an als noch vor wenigen Jahren. Dennoch setzen sich die Kontroversen zum kirchlichen Arbeitsrecht ungebrochen fort. Im individuellen Arbeitsrecht rückt zurzeit in den Vordergrund, ob für die Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen weiterhin der Kirchenaustritt verboten bleiben darf. Es ist anzunehmen, dass der EuGH dies nicht hinnehmen wird.

Noch in ihren neuen Loyalitätsrichtlinien von 2022/2023 beharren die katholische und die evangelische Kirche darauf, dass Beschäftigte, die Kirchenmitglied sind, aus der Kirche nicht austreten dürfen.[1] Diese Bestimmung betrifft Personen, die in kirchengebundenen Einrichtungen normale weltliche Tätigkeiten ausüben, z. B. Ärzt*innen, Sozialpädagog*innen, Hausmeister*innen oder Bürokräfte. Eigentlich hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die individuellen Grundrechte dieser Beschäftigten mit seinen beiden Urteilen aus dem Jahr 2018 („Chefarztfall“; „Fall Egenberger“) bereits erheblich gestärkt. Daher mischt sich sogar die katholische Kirche in die Privatsphäre von Beschäftigten, etwa in eine Wiederverheiratung oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft, neuerdings in der Regel nicht mehr ein. Unter Berufung auf die EuGH-Judikatur von 2018 haben deutsche Arbeitsgerichte zudem Arbeitnehmer*innen Recht gegeben, die dagegen geklagt hatten, dass kirchliche Träger ihnen bei Bewerbungen die Kirchenmitgliedschaft abverlangt hatten[2] oder dass ihnen nach einem Kirchenaustritt gekündigt worden war.[3]

Der Hebammenfall und der Fall der Sozialpädagogin

Zum Thema „Kirchenaustritt“ ist aber kein Rechtsfriede eingekehrt. Das zeigte sich an dem Vorabentscheidungsgesuch des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an den EuGH vom 21.7.2022.[4] Das BAG erbat vom EuGH eine Auskunft dazu, ob es rechtens sei, dass eine katholisch getragene Klinik einer Hebamme gekündigt hatte, die wegen des Missbrauchsskandals die Kirche verlassen hatte. Die Kündigung war schon allein deshalb unschlüssig, weil die Klinik auf gleichartigen Stellen nichtkatholische Mitarbeiter*innen für sich arbeiten ließ. Völlig überraschend bot die katholische Klinik der Hebamme im Jahr 2023 dann sogar die Wiedereinstellung an. Es ist ein offenes Geheimnis, warum dies erfolgte. Sie wollte den Fall aus der Welt schaffen, weil sie vor dem EuGH eine Niederlage fürchtete. 

Stattdessen setzte sie ihre Hoffnungen auf einen anderen Fall. Ein katholischer Verein im Bistum Limburg hatte einer Sozialpädagogin gekündigt, weil sie während ihrer Elternzeit aus der Kirche ausgetreten war, um sich bzw. – genauer – um ihrem nichtkatholischen Ehemann die Kirchensteuer in Form des hessischen „besonderen Kirchgeldes“ zu ersparen. Als sie sich wehrte, stimmten ihr die deutschen Instanzgerichte zu.[5] Die katholische Kirche beharrt auf der Kündigung vor allem wohl deshalb, weil die gekündigte Frau auch in der Schwangerenberatung tätig war. Insoweit hatte ihre Tätigkeit mit einem harten Kern der katholischen Moraldoktrin, dem absoluten Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, zu tun. Weil das BAG den Streitfall wieder dem EuGH vorlegte, wird Letzterer zu ihm Stellung nehmen. 

Um die Aussichten der katholischen Kirche vor dem EuGH dürfte es aber auch in diesem Fall schlecht bestellt sein. Die Instanzgerichte hatten der gekündigten Frau u. a. deshalb Recht gegeben, weil der katholische Verein zur Schwangerenberatung zu einem hohen Anteil Frauen eingestellt hat, die gar nicht katholisch sind. Dass die Beratung unter Beachtung der katholischen Lehre zum Schwangerschaftsabbruch zu erfolgen hat, habe der Verein hinreichend durch Vertragsklauseln abgesichert. Einer Kündigung wegen Kirchenaustritts bedürfe es nicht. 

Zusätzlich wird vor dem EuGH ein Gesichtspunkt eine Rolle spielen, den er selbst ins Spiel gebracht hat. Als zum – inzwischen eingestellten – „Hebammenfall“ am 6.9.2023 vor dem EuGH eine Anhörung stattfand, interessierten sich die Europarichter für die Unterscheidung zwischen dem „Ethos“ einer Religionsgemeinschaft und ihrem „Selbstverständnis“. Der Hintergrund: Die einschlägige EU-Richtlinie sichert Religionsgemeinschaften den Schutz ihres Ethos zu.[6] In deutschen Gesetzestexten gilt hingegen ihr Selbstverständnis als schutzwürdig.[7] Hieraus ergibt sich die Frage, wie sich die beiden Begriffe zueinander verhalten.

Ethos versus Selbstverständnis

Zwar fehlen Legaldefinitionen, begriffsgeschichtlich und sachlogisch ist jedoch zu sagen, dass mit dem Ethos die grundlegenden, verbindlichen Prinzipien einer Religionsgemeinschaft gemeint sind, wohingegen sich unter das Selbstverständnis Aussagen unterschiedlicher Art fassen lassen – auch solche, die binnenreligiös nicht tragend sind. Inhaltlich geht es beim aktuell anhängigen Fall um einen Austritt aus der Kirche, der gemäß deutschem staatlichem Recht erfolgte, zwecks Vermeidung einer speziellen Kirchensteuer, nämlich des besonderen Kirchgeldes. Nun wird in der strikt hierarchisch verfassten katholischen Kirche das Ethos vom Lehramt in Rom, vom Apostolischen Stuhl, festgelegt. Den römischen Dokumenten zufolge kann eine Person, die die Kirche nach staatlichem Recht verlässt, Mitglied der Kirche als Glaubensgemeinschaft bleiben, wenn sie innerlich dem katholischen Glauben verbunden bleibt. Das Selbstverständnis der deutschen katholischen Partikularkirche sieht dies anders. Es deutet einen Kirchenaustritt, der vor einer staatlichen Instanz rein äußerlich vollzogen wird, pauschal zugleich als (Selbst-)Ausschluss der jeweiligen Person aus der Kirche als Glaubensgemeinschaft.[8]

Diese Diskrepanz zwischen dem von Rom gelehrten Ethos und dem partikularkirchlichen Selbstverständnis ist für den vorliegenden Fall wichtig. Denn die gekündigte Frau hat – unwidersprochen – dargelegt, weiterhin gläubige Katholikin zu sein. Ausdrücklich möchte sie Schwangere nach wie vor nur auf der Basis der katholischen Lehre beraten. Als Katholikin sei sie subjektiv außerstande, Beratungen gemäß § 7 Schwangerschaftskonfliktgesetz durchzuführen, wonach eine Schwangere aufgrund des ihr ausgestellten Beratungsscheins einen Abbruch vornehmen lassen darf. Aufgrund von Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78/EG wird für den EuGH das Ethos der katholischen Kirche, d. h. die von Rom vorgegebene Auffassung, maßgebend sein. Der Apostolische Stuhl hält einen nach staatlichem Recht erfolgten Kirchenaustritt für hinnehmbar, wenn bei der Person innerlich der Wille bestehe, in der Glaubensgemeinschaft zu bleiben.[9] Bei der gekündigten Sozialpädagogin verhält es sich unzweifelhaft so. 

Darüber hinaus wird der EuGH bei der Beantwortung der Vorlagefrage voraussichtlich noch weitere Argumente zugunsten der Sozialpädagogin in die Waagschale legen. Zu ihnen gehören die oben erwähnten sachlich schlüssigen Argumente der deutschen Instanzgerichte sowie das Grundrecht der Sozialpädagogin auf negative Religionsfreiheit, das einen Kirchenaustritt absichert. 

Fazit

Im Ergebnis ist zu erwarten, dass der EuGH auf der Linie seiner Urteile aus dem Jahr 2018 bleibt und er eine Pflicht zur Kirchenmitgliedschaft nur dann akzeptiert, wenn die beschäftigte Person im engen Sinn kirchlich-religiöse Funktionen ausübt: Predigt, Seelsorge, religiöse Leitungsfunktion, religiöse Repräsentanz nach außen.[10] Wünschenswert ist, dass der EuGH diese Eingrenzung der Kirchenzugehörigkeitspflicht begrifflich und sachlich klar zur Sprache bringt. Denn inzwischen versuchen die deutschen Kirchen – nicht nur die katholische, sondern auch die evangelische Kirche – die vom EuGH 2018 gesetzten Normen aufzuweichen.[11] Diesen Tendenzen sollte das neue Urteil des EuGH einen Riegel vorschieben. 

Fußnoten

Fußnoten
1 Siehe Art. 7 Abs. 4 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes (Die deutschen Bischöfe) und § 6 Abs. 2 der Richtlinie des Rates über Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie (Evangelische Kirche in Deutschland).
2 ArbG Karlsruhe, Urt. v. 18.9.2020 – Az. 1 Ca 171/19 = openJur 2021, 27477.
3 Z. B. LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 10.2.2021 – 4 Sa 27/20 = NZA 2021, 719.
4 BAG, Beschl. v. 21.7.2022 – 2 AZR 130/21 (A) = openJur 2022, 18388.
5 ArbG Wiesbaden, Urt. v. 10.6.2020 – 2 Ca 288/19; LAG Hessen, Urt. v. 1.3.2022 – 8 Sa 1092/10.
6 Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
7 Z. B. § 9 AGG.
8 Vgl. H. Kreß, Kirchlich getragene Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens: Neue Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof, in: MedR 42 (2024), 580–585, 581 ff., m. w. N. Der Beitrag steht open access zur Verfügung unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00350-024-6807-7.pdf.
9 Nachweise bei H. Kreß, a. a. O. 582.
10 EuGH, Urt. v. 17.4.2018 – C‑414/16 [ECLI:EU:C:2018:257], Egenberger – Rn. 63.
11 Entsprechende Problemhinweise hat der Verfasser in zwei Beiträgen dargelegt: Die neue „Grundordnung“ des katholischen kirchlichen Arbeitsrechts – zwiespältig und am kirchlichen Eigeninteresse orientiert, in: Weltanschauungsrecht Aktuell Nr. 6, 20. Dezember 2022, unter: https://weltanschauungsrecht.de/sites/default/files/download/weltanschauungsrecht_aktuell_6_1.pdf (abgerufen am 05.09.2024); Die Mitarbeitsrichtlinie der evangelischen Kirche von 2023: Ein Verlegenheitsdokument mit neuer Intransparenz, in: Weltanschauungsrecht Aktuell Nr. 7, 22. August 2023, unter: https://weltanschauungsrecht.de/sites/default/files/download/weltanschauungsrecht_aktuell_7_22_08_23.pdf (abgerufen am 05.09.2024).

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