Wie verhält sich christliche Ethik zur Migrationspolitik? Was ist das Christentum über reine Moral hinaus? Wie kann der Staat eine realistische, aber menschenwürdige Asylpolitik organisieren? Auf diese Fragen antwortet ein Plädoyer für eine Debatte, die zwischen Idealisierung und Pragmatismus vermitteln und sich den Herausforderungen von Recht, Ordnung und christlicher Verantwortung gleichermaßen stellen sollte.
Zum weiten Feld der Religionspolitik gehört natürlich auch die Frage nach einer religiös motivierten Politik, konkret: Gibt es eine Art christlicher Politik, einen Markenkern christlichen Handelns im Raum der Politik? Zunächst also grundsätzlich und dann sehr konkret mit Blick auf das Thema der Migration: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“ Das gilt zu Recht als Kern der christlichen Moral. Aber zur Erinnerung: Christentum ist erst in zweiter Linie Moral. Zuerst ist Christentum Glaube an Gott, feste Überzeugung von Gottes Existenz und Wille zu mir und zu meinem Dasein. Auf ewig. Und dieser Wille Gottes heißt konkret: Liebe. Gottes Liebe im Leben weitergeben. Gottes große Münze der vollkommenen Liebe einwechseln in die kleine Münze der alltäglichen Gerechtigkeit. Und hier stoßen wir gleich schon auf die erste gefährliche Klippe. Denn Gott lieben und seine Liebe weitergeben im eigenen Leben heißt zunächst nicht: alle Menschen als gute Freunde ansehen. Es heißt zunächst nichts anderes als: alle Menschen als Kinder und Geschöpfe Gottes ansehen. Denn natürlich besteht ein großer Unterschied zwischen Freundesliebe und Nächstenliebe: Freunde sucht man sich aus, nach Sympathie; Nächste sind vorgefundene Geschwister, die man nicht aus Sympathie liebt, sondern aus Gehorsam gegenüber den Eltern der Kinder. Gegenüber Gott. Über alle Grenzen der Sympathie oder Nation oder Kultur hinaus. Philosophisch heißt das: Würde. Theologisch heißt das mehr noch: Die Würde des Menschen liegt in seinem Gewolltsein von Gott. Das hat der gläubige Mensch anzuerkennen, ganz ohne Sympathie oder Ergriffenheit. Schlicht und einfach als Tatsache, wie in einer Familie, in der die Eltern sagen: Das sind Deine Geschwister, streitet Euch nicht und achtet Euch. Zumindest. Besser noch: Habt Euch lieb, weil wir, die Eltern, jeden von Euch lieb haben. „Zumindest“ heißt wissenschaftlich: Gerechtigkeit. „Besser noch“ heißt wissenschaftlich: Liebe. Und Barmherzigkeit. Aber alles beginnt mit dem Minimum der Gerechtigkeit und endet erst (im besten Fall) mit dem besseren und besten Ziel der Liebe. Staat zu machen ist mit der Liebe freilich nicht; der Staat baut sich auf einem Minimum an Gerechtigkeit auf; er dient der Mängelverwaltung fehlender Liebe außerhalb des Paradieses; er legt Grenzen der Verantwortung fest. Auch ein Christ trägt nicht Verantwortung für die Liebe zu allen Menschen in der Welt; es gilt der Primat der Nächstenliebe vor der Fernstenliebe; der Staat organisiert zunächst nur das friedliche Zusammenleben innerhalb der Grenzen eines Landes. Das Recht auf Asyl geht vom Anspruch weit darüber hinaus, entzieht sich freilich deswegen nicht einer notwendigen Ordnung und Gesetzgebung zur sicheren Feststellung der legitimen Gründe auf Asyl.
Ein verschärfter Kurs in der Migrationspolitik und in Fragen des Asylrechts, wie er sich jetzt glücklicherweise nach der Bundestagswahl abzeichnet, verlässt durchaus nicht den Boden des Grundgesetzes. Denn dass Menschen Recht auf Asyl in Deutschland haben, wenn sie um ihr Leben im Ausland fürchten müssen, steht fest. Und ebenso gilt Artikel 1 Absatz Satz 1 Grundgesetz als Grundstein unseres Staates: Die Menschenwürde ist unantastbar. Der Hund begraben und der Hase im Pfeffer liegen in trauter Eintracht ganz woanders, nämlich da, wo es schwierig wird zu entscheiden, ob jemand über unmittelbare Lebensgefahr hinaus in der Würde bedroht ist und deswegen Recht auf Asyl hat. Und wo es schwierig ist, das zu überprüfen, oft ohne Papiere und außerhalb des bedrohenden Landes. Da gilt nach europäischer Regelung zunächst: Zuständig ist das erste Aufnahmeland, auch wenn das (Bulgarien oder Griechenland) möglicherweise unattraktiver erscheint als Deutschland. Schon hier, sieht man, werden die Grenzen fließend zwischen humanitären Asylbewerbern und Wirtschaftsflüchtlingen; diese Grenze aber muss von Rechts wegen das Gesetz definieren; das darf nicht einer überforderten Bürokratie und Verwaltung aufgehalst werden. Lebensbedrohung und Würdeverletzung müssen überprüfbar sein, sonst braucht es überhaupt keine Ländergrenzen mehr. Und noch einmal sei aus Sicht katholischer Sozialethik unterstrichen: Grenzen sind nicht unmoralisch, sondern dienen der Ordnung der Gerechtigkeit im nahen Nationalstaat als allererste Voraussetzung einer Ordnung der Liebe in Gottes ferner Ewigkeit.
Während der Zeit der Prüfung der Asylgründe kann es keinen unbefristeten Aufenthalt in Deutschland geben, auch angesichts einer zunehmend prekären Sicherheitslage, denn die Asylbewerber sind (überraschenderweise) genauso wenig Engel wie die hiesigen Bewohner. Sie sind deswegen noch lange nicht Teufel und schon gar nicht pauschal zu diffamieren. Aber ein Land lebt grundsätzlich und wesentlich aus der Möglichkeit, zunächst seine Bewohner in Sicherheit leben zu lassen. Und das sichere Zusammenleben ist zunehmend gefährdet angesichts oft jahrelanger Prüfung von humanitären Asylanträgen, wenn die Asylbewerber sich bereits auf freiem Fuß im Land befinden. Es ist daher keineswegs unmoralisch oder unchristlich, das Recht auf Asyl zu koppeln an eine Pflicht an Gesetzesbeachtung; das ist schlicht gesunder Menschenverstand und wiederum ein Gebot der Gerechtigkeit. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass der deutsche Gesetzgeber sich endlich der Aufgabe stellen müsste, systematisch per Gesetz (und nicht per Willkür der Bürokratie) zu unterscheiden zwischen humanitären Asylanten einerseits und Migranten aufgrund wirtschaftlicher Notlage oder wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten in der Heimat andererseits.
Die Frage der richtigen Migrationspolitik entscheidet sich nicht im Grundsatz, sondern in den Ausführungsbestimmungen. Und da hilft es nicht, die angeblich christliche, sozialethisch einzig wahre tugendethische Keule zu schwingen, sondern man muss in die garstigen Niederungen der Institutionenethik hinabsteigen, auch auf die Gefahr hin, dort überraschenderweise nicht der erste gute Mensch von Sezuan zu sein, sondern bereits unliebsame Zeitgenossen der AfD vorzufinden, die – demokratisch immerhin vom Wähler mehrfach legitimiert – dort auch ihr Süppchen kochen oder gar – man glaube es kaum – einfach politische Probleme lösen wollen. Aber so ist es eben in der Demokratie wie in der Mathematik oder der Musik: Davon, dass auch Rechtsextreme für den Satz des Pythagoras oder die Schönheit der Mozart-Symphonien stimmen, wird beides noch lange nicht falsch. Man würde sich höchstens verständigere Befürworter wünschen. Die bisherige Migrationspolitik eines von der Gerechtigkeit der alltäglichen Anwendung weit entfernten Gutmenschentums ist gescheitert, und dieses Scheitern wird auch nicht mehr länger durch das Beschwören einer Brandmauer verschleiert werden können. Hinzuzufügen sind in einer Wahldemokratie auch so garstige Überlegungen, dass man am Ende mit dem Kopf vor einer Brandmauer stehen könnte, hinter der fast die Hälfte der übrigen Wählerschaft versammelt ist. Brandmauern sind in parlamentarischen Demokratien generell ein höchst ungeeignetes Mittel der politischen Auseinandersetzung; Argumente und Debatten sind es dagegen schon. Am Ende muss ohnehin der Wähler entscheiden. Das zu betonen ist in Deutschland traumatisch sehr vorbelastet in Erinnerung an politische Pygmäen wie Franz von Papen und Alfred Hugenberg, die Hitler klein kochen wollten durch die Einbindung in das letzte Kabinett der Weimarer Republik. Die Folgen sind leider nur allzu bekannt. Und dennoch darf dieses historische Trauma nicht den Blick trüben dafür, dass die Verhältnisse in unserer Republik anders sind als in der Agonie der Weimarer Republik. Der Wähler entscheidet, auch über mögliche Koalitionen. Wer anderes will, bastelt sich per Laubsägearbeit einen scheinbar korrekteren Reichspräsidenten zurecht, der nach den Wahlen entscheidet, wer zur Regierung zugelassen wird.
Und der Christ unter den Wählern? Er entscheidet zuerst nach Prinzip und dann nach Anwendung. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ ist erster Grundsatz der Tugend, muss aber angewendet werden nach dem sofort folgenden Grundsatz der Gerechtigkeit, und zwar in gesetzlichen Ausführungsbestimmungen. Barmherzigkeit ist (gesetzlich gesehen) stets nur die Verbeugung des ungenügenden Gesetzes vor der größeren Tugend des einzelnen Menschen. Siehe: barmherziger Samariter. Das kann nur als Ausnahme gelten – Stichwort: Kirchenasyl! – und auf Dauer funktioniert so kein Staat. Gesetze müssen verbessert werden, nicht die Willkür von bürokratischer Verwaltung oder privater Barmherzigkeit.
Gerechtigkeit ist die kleinere, weniger liebreizende und oft sogar garstige Schwester der viel beschworenen Barmherzigkeit. Aber mit der kann ohnehin nicht umstandslos Staat gemacht werden, sonst bräuchten wir keine Gerichte und Gefängnisse, sondern nur Kirchen und Suppenküchen. Leider ist es außerhalb des Paradieses und jenseits von Kain und Abels schicksalhaftem Aufeinandertreffen so einfach längst nicht mehr und stets ist an den lieben und zugleich nüchternen Immanuel Kant zu erinnern: Gesetze müssen gemacht sein wie für ein Volk von Teufeln. Nicht etwa Behörden müssen für ein Volk von Teufeln gemacht sein, sondern eben Gesetze. Nicht perfekte Bürokratie soll Verbrechen, auch von dissozialen Migranten, verhindern, sondern das Gesetz. Auch und gerade nach Auffassung der katholischen Soziallehre, die sich keineswegs auf Barmherzigkeit und die Caritas beschränkt, sondern ebenso zuständig ist für eine mögliche anzuwendende Härte des Gesetzes, das der Gerechtigkeit dient. Sonst brauchen wir am Ende nur noch Suppenküchen und Kirchenchöre.
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