Die Kirchen haben unter Nutzung des Arbeitsrechts lange Zeit die Identität ihrer Dienste und Einrichtungen über die Abfrage von Loyalitätsobliegenheiten bei ihren Arbeitnehmer_innen abgesichert. Diese Instrumentalisierung entspricht nicht der Aufgabe des Arbeitsrechts. Es fehlt offenbar an einem neuen, gewinnenden Narrativ zur konfessionellen Identitätsentwicklung in der pluralen Gesellschaft. Unter dem Schutz des Arbeitsrechtes haben es die Bischöfe versäumt, die notwendigen Prozesse zum Aufbau einer substanziellen Identifikation von Mitarbeitenden mit dem kirchlichen Auftrag und Selbstverständnis zu entwickeln. Zu fragen ist, braucht es in der katholischen Kirche eine „Grundordnung für den kirchlichen Dienst“ und wer ist sinnvollerweise mit einer neuen Programmatik zu befassen.
Die Entwicklung eines eigenen kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland währt gerade mal 40 Jahre. Weltkirchlich ist dies ein deutscher Sonderweg. Ein mit Loyalitätsobliegenheiten auf die persönliche Lebensführung von Arbeitnehmer_innen zugreifendes kirchliches Arbeitsrecht wirkt heute anachronistisch.
So sollten alle Mitarbeitenden in kirchlichen Einrichtungen durch ihre Lebensführung die Sendung der Kirche und somit das besondere Profil des christlichen Lebens zum Ausdruck bringen. (vgl. Erklärung der Deutschen Bischöfe 1983). Der Beruf wurde so spiritualisiert und zur Berufung. Der kirchliche Arbeitgeber nahm nicht nur pastoral, sondern arbeitsrechtlich Zugriff auf die persönliche Lebensführung der Mitarbeitenden. Dies entsprach dem Selbstverständnis der Kirchenleitungen als von Gott besonders Erwählte, die im Modus der Verkündigung die Glaubenswahrheiten sowohl gegenüber den Gläubigen wie auch der Gesellschaft verbindlich festlegten. Sie erwarteten Folgsamkeit gegenüber den kirchlichen Lehren. In den restaurativen Zeiten unter Papst Johannes Paul II und Benedikt XVI galt es, kirchliches Profil und somit Identität im Gegenüber zur Welt zu definieren. Unmerklich wurde wieder der alte Gedanke der societas perfecta (die Kirche als vollkommene Gesellschaft – unabhängig vom Staat) zum Leitgedanken. Man suchte die kirchliche Identität weiter in der Frage nach dem Unterscheidenden.
Das prägende Narrativ der katholischen Grundordnung war und ist das Bild der Ordensfrau oder des Ordensmannes. So wurden moralische Parameter der Lebensführung – insbesondere in Bezug auf die Sexualmoral – verbindlich gemacht und zu institutionellen Identitätsmarkern. Pikant ist, dass diese Loyalitätsobliegenheiten des Art. 5 der Grundordnung in ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit als Reaktionsmuster auf die 68er Bewegung immer offensichtlicher zu Tage treten. Die Idee gleichsam per Loyalitätsobliegenheiten wie mit Ordensregeln einen Totalzugriff auf Mitarbeitende zu nehmen und per kirchlicher Grundordnung eine umfassende Folgsamkeit in der Lebensführung zu verlangen, kommt einer kirchlichen Pädagogisierung des Arbeitsrechts gleich. Mit den EUGH-Urteilen im Fall Egenberger am 17. April 2018, im Fall des Düsseldorfer Chefarztes am 20.02.2019 wie auch durch die #Outinchurch-Bewegung wurde diese Form als übergriffig und diskriminierend offenbar. Bis heute bestimmt diese Programmatik die katholische Grundordnung für den kirchlichen Dienst.
Braucht es ein kirchliches Arbeitsrecht?
Nicht erst durch den sexuellen Missbrauch und seine systemischen Ursachen haben die Kirchen ihre unhinterfragte exklusive Stellung als Wertegarantinnen für den Staat im Sinne des böckenfördischen Werte-Diktums eingebüßt.[1] Insbesondere die katholischen Bischöfe realisieren, dass sie in einem säkularen Staat künftig die Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts als Ausdruck ihres Selbstbestimmungsrechts in den Schranken des staatlichen Rechts deutlicher begründen müssen. Dies legte bereits das EUGH-Urteil im Fall Egenberger durch die Einführung des Begriffs des „Berufsethos“ nahe. Mit dem Ende der Volkskirche ist diese Entwicklung für die katholische Kirche eine Chance, die mentale Transformation von moralischen Vorgaben zu Identifikationsangeboten zu vollziehen.
Arbeitnehmer_innen geht es heute neben einem gerechten Lohn und guten Arbeitsbedingungen um die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, der Erfahrung von Wertekohärenz, dem Erleben sozialer Verbundenheit und sinnstiftender Tätigkeit. Sie erwarten von kirchlichen Trägern keine moralischen Vorgaben, sondern wollen gewonnen werden für deren christliche Ideale. Die Kirchen können im Arbeitsprozess gelebte und fachlich umgesetzte Werte und Haltungen anbieten, die zur Lebensentfaltung aller Menschen in einer pluralen Gesellschaft beitragen. Es gilt eine christliche Vision von Lebens- und Weltgestaltung in Form von positiven Zusagen an Mitarbeitende zu formulieren. Diese konkret auf die Tätigkeit bezogene Vorstellung des kirchlichen Auftrags gilt es mit allen im fachlichen Diskurs weiterzuentwickeln und in einer Unternehmenskultur lebendig zu gestalten. Die christliche Botschaft ist ein fachlicher Gestaltungsauftrag und zugleich ein Angebot an die selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeitenden. Für die Kirchen geht es somit um die christliche Prägung fachlicher Prozess (christliche geprägte Professionalität) und einer entsprechenden organisationalen Kultur (christliche Unternehmenskultur).
Welche Aufgaben hat eine kirchliche Grundordnung für den kirchlichen Dienst?
Zu fragen ist, ob ein kirchlicher Träger zur Verwirklichung seines christlich-konfessionellen Selbstverständnisses das Arbeitsrecht benötigt. Das Arbeitsrecht hat nicht die Aufgabe, die vom jeweiligen kirchlichen Träger und den Kirchen als notwendig erachtete Identifikation mit den christlichen Idealen, Werten und fachlichen Standards zu gewährleisten. Das Arbeitsrecht dient dem Arbeitnehmerschutz und regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und deren Beschäftigten. Es zielt z.B. auf Arbeitszeit-, Kündigungs-, Entgelt-, Gesundheitsschutz.
Die Kirchen sind aufgefordert plausibel darzulegen, welche spezifischen Prozesse z.B. im Sinne der Aushandlung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen ihrem Selbstverständnis entsprechen und daher eine besondere rechtliche Absicherung erfordern. Hier kann der dritte Weg als ein auf Konsens und Parität angelegtes Aushandlungskonzept angeführt werden.[2] Kirchliche Träger sollten auch das Recht haben, Mitarbeitenden im Rahmen der beruflichen Tätigkeit Angebote zur einer christlich geprägten Professionalisierung und zur Gestaltung einer christlichen Unternehmenskultur zu machen. Weiter können grundlegende ethische Standards des kirchlichen Selbstverständnisses verbindlich sein, wie z.B. Lebensschutz für alle Lebensalter oder der Ausschluss von rassistischen und diskriminierenden Haltungen. Aber macht letzteres ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht notwendig? Dies kann auch durch entsprechende Compliancevereinbarungen geregelt werden, die als Verhaltensregeln eine rechtlich verbindliche Orientierung im Sinne des Unternehmens geben.
Es bedarf daher künftig lediglich für einige wenige beruflichen Tätigkeiten mit identitätsrelevanten Themenstellungen der Beschreibung spezifischer Werte und Haltungen oder die Notwendigkeit eines Bekenntnisses zum konfessionellen Selbstverständnis der Kirchen. Erstes könnte z.B. in einzelnen Beratungskontexten, wie in der Schwangerschaftskonfliktberatung der Fall sein oder bei einzelnen medizinischen und pflegenden Fachbereichen. Letzteres gilt bei der Übernahme von explizit religionspädagogischen und pastoralen Aufgaben sowie bei Leitungskräften, die eine weitreichende strategische, personelle, finanzielle wie repräsentative Verantwortung wahrnehmen. Gleiches gilt für Mitarbeitende mit einem besonderen kirchlichen Auftrag, z.B. politische Lobbyarbeit, theologische Lehrtätigkeiten oder pastorale Referent_innentätigkeit in kirchlichen Verwaltungen.
Das Arbeitsrecht ist zuallererst ein Schutzrecht für Arbeitnehmer_innen und kein Verteidigungsrecht der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre. Die Kirchen und ihre vielfältigen Unternehmungen benötigen das Arbeitsrecht sicher nicht, um in einer pluralen und freiheitlichen Gesellschaft die notwendigen Diskurse zur Ermöglichung einer reflektierten Identifikation mit den christlichen Idealen, dem jeweiligen kirchlichen Auftrag und den christlich geprägten fachlichen Standards zu gewährleisten.
Das Narrativ macht den Unterschied
Ein programmatischer Neuanfang bedeutet daher den Wechsel vom personenbezogenen zu einem tätigkeits- und organisationsbezogenen Ansatz. Die Kirchen sollten im Sinne des EUGH das jeweilige christliche Berufsethos für die unterschiedlichen Professionen beschreiben. Es gilt ein aus dem christlichen Selbstverständnis abzuleitendes christlich geprägtes Professionalitätsverständnis zu definieren. Statt negativer Abgrenzungen zeigen sich hier positive Zuschreibungen im Sinne von Lebensschutz, Diversität, Teilhabe, Nachhaltigkeit, Solidarität, usw. Diese Identifikationsmarker des Christlichen sind neben dem spezifischen kirchlichen Trägerauftrag (Vision und Mission) und der christlichen Unternehmenskultur die Grundlage für einen zu ermöglichenden Identifikationsprozess. Mitarbeitende wollen heute wissen, welche Werte und Haltungen für die Ausübung einer Tätigkeit bei einem kirchlichen Träger relevant sind. Welche Vision ein kirchlicher Träger hat und wie er dies z.B. durch ein Leitbild, die Führungs- und Unternehmenskultur umsetzt. Das große christliche Narrativ der „Zivilisation der Liebe“[3] (Reich Gottes) lädt alle Menschen guten Willens ein und vertraut auf die prägende christliche Kultur in den caritativen bzw. kirchlichen Organisationen.
Insofern ist für eine überwiegende Zahl von beruflichen Tätigkeiten in Kirche und ihrer Caritas bzw. Diakonie nicht einmal eine Kirchenzugehörigkeit notwendig. Dies zeigt bereits die Praxis kirchlicher Träger in den ostdeutschen Bundesländern.
Zu fragen ist, ob die katholische Kirche jenseits des kollektiven Arbeitsrechts noch eine Grundordnung für den kirchlichen Dienst braucht und ob das Arbeitsrecht überhaupt geeignet ist, auf die heutigen Herausforderungen der kirchlichen Identitätsentwicklung in einer pluralen Gesellschaft eine Antwort zu liefern. Es bedarf hier eines breiten Diskussionsprozesses. Sonst besteht die Gefahr, dass in den Hinterzimmern der Bischofskonferenz nur der minimalistische Konsens der Bischöfe verhandelt wird. Dabei hat die überwiegende Mehrzahl der Bischöfe gerade erst beim „Synodalen Weg“ im Forumspapier 1 `Macht und Gewaltenteilung in der Kirche´ für transparente Verfahren bei grundlegenden Fragestellungen gestimmt. Denn es braucht „eine qualifizierte und rechtlich garantierte Partizipation in allen Beratungs- und Entscheidungsprozessen der Kirche“.[4] Erst ein entsprechender Diskurs schafft die Akzeptanz bei den kirchlichen Trägern und den über 700.000 Mitarbeitenden. Andernfalls entscheiden die Arbeitsgerichte, das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof über die künftige Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts.
Fußnoten
↑1 | Das Diktum besagt, dass der, „freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.“ Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 1991, S. 92–114, 112 (erweiterte Ausgabe 2006). |
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↑2 | Der sogenannte dritte Weg beschreibt ein eigenes System zur Aushandlung von Arbeitsvertragsbedingungen für die Dienste und Einrichtungen der katholischen Kirche. Während der 2. Weg den Aushandlungsprozess zwischen zwei voneinander unabhängigen Tarifparteien (Arbeitgeber/Gewerkschaften) unter Einbeziehung des Streikrechts meint, wird dies kirchlicherseits im Sinne der Dienstgemeinschaft gemäß dem Konsensprinzip in paritätisch besetzen Kommissionen ausgehandelt. |
↑3 | Vgl. Botschaft von Johannes Paul II. zum XVII. Weltjugendtag. https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/messages/youth/documents/hf_jp-ii_mes_20010731_xvii-world-youth-day.pdf – online-Abruf 4.3.2022 |
↑4 | https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/SV-III_1.2NEU_Synodalforum-I_Grundtext-Beschluss.pdf, S.22 – onlineabruf 2.3.2022 |
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