Das Gebot der Ablösung der Staatsleistungen in Art. 138 I WRV ist älter als das Grundgesetz und doch wurde ihm bis heute nicht nachgekommen. Seit Längerem wird über den richtigen Maßstab der Ablösung diskutiert. Wenn sich die Ampelkoalition jetzt vorgenommen hat, das durch Art. 138 I WRV vorgeschriebene Grundsätzegesetz des Bundes über die Ablösung der Staatsleistungen auf den Weg zu bringen, ist es aus Sicht der Kirchen Zeit, auch die prozessuale Frage zu stellen, welche Rechtsschutzmöglichkeiten ihnen gegen ein nach diesem Maßstab ggf. verfassungswidriges Grundsätzegesetz offenstehen.
Die beiden Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, die Abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG und die Konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG, können die Kirchen nicht selbst anstrengen. Für die Abstrakte Normenkontrolle fehlt es ihnen an der Antragsbefugnis. Eine Konkrete Normenkontrolle kann erst, nachdem Staatsleistungen durch die Länder tatsächlich abgelöst worden sind, aus einem Verwaltungsverfahren gegen den entsprechenden Verwaltungsakt heraus initiiert werden. Dies geschieht durch Vorlage eines Verwaltungsrichters, wenn dieser das Grundsätzegesetz für verfassungswidrig und entscheidungserheblich hält. Diese Vorlage können die Kirchen nur anregen, nicht beantragen.[1]
Aber auch eine Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG kann sich gegen ein Gesetz richten. Hier sind die Kirchen antragsberechtigt. Sie müssen allerdings geltend machen können, in einem Grundrecht oder eben diesen in Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG gleichgestellten Rechten verletzt zu sein. Die über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikel räumen selbst weder Grundrechte noch grundrechtsgleiche Rechte ein[2], wenngleich sie „funktional […] auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung der kollektiven kirchlichen Bekenntnis- und Kultfreiheit angelegt sind“[3]. Sie sind daher nur zulässiger Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde, insoweit sie ein Grundrecht, typischerweise die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG, konkretisieren.
Indem Art. 140 GG i. V. m Art. 138 I WRV auf den Schutz des Vermögens der Kirchen gerichtet ist, schützt er das „materielle[…] Substrat“[4] ihrer Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG.[5] Die Ausrichtung des Art. 138 I WRV auf den Schutz des Vermögens der Kirchen liegt in seiner doppelten Rechtswirkung: Erstens verlangt das Ablösungsgebot des Art. 138 I 1 WRV die vermögensrechtliche Entflechtung von Staat und Kirchen durch Ablösung der Staatsleistungen.[6] Das bedeutet die einseitige Aufhebung gegen Entschädigung[7] und damit unter Wahrung der Vermögensinteressen der Kirchen. Zweitens erwächst aus diesem Gebot eine Bestandsgarantie der Staatsleistungen bis zu ihrer Ablösung. Als Kehrseite des Ablösungsgebotes, nämlich daraus, dass Staatsleistungen nicht anders als durch Ablösung eingestellt werden dürfen, ergibt sich, dass, solange eine Ablösung nicht geschehen ist, der Bestand der Staatsleistungen verfassungsrechtlich garantiert ist.[8] Damit sind die Vermögensinteressen der Kirchen an den Staatsleistungen bis zur Ablösung durch die Bestandsgarantie, in der Ablösung durch einen Anspruch auf Entschädigung geschützt.
Das heißt, dieser Vermögensschutz durch Art. 138 I WRV besteht unabhängig davon, ob die Kirchen einen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf Ablösung der Staatsleistungen haben.[9] Die doppelte Rechtswirkung des Ablösungsgebots mit seiner Kehrseite der Bestandsgarantie vermittelt jedenfalls einen Anspruch der Kirchen auf den Schutz ihrer Vermögensinteressen hinsichtlich der Staatsleistungen durch ein „Entweder-Oder“: Entweder, solange die Ablösung nicht geschehen ist durch den Bestand der Staatsleistungen oder durch deren Einstellung nur als Ablösung, das heißt gegen Entschädigung.
Insoweit die Staatsleistungen Surrogate früheren Eigentums der Kirchen darstellen, kommt auch eine Konkretisierung des Schutzbereichs von Art. 14 GG durch Art. 140 GG i. V. m Art. 138 I WRV in Betracht.[10]
Wenn die Kirchen nun im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend machen müssen, dass sie in den auf diese Weise konkretisierten Grundrechten auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind, erfordert dies mit Blick darauf, dass es sich lediglich um ein Grundsätzegesetz des Bundes handelt, eine genauere Begründung. Insbesondere die unmittelbare Betroffenheit steht dadurch infrage, dass es zur unmittelbaren Einwirkung auf die Rechtsposition der Kirchen noch der entsprechenden Landesgesetzgebung, ggf. eines Verwaltungsaktes, bedarf.
Überbrücken lässt sich eine solche fehlende unmittelbare Betroffenheit dann, wenn schon vor dem Erlass des vermittelnden Aktes eine verletzungsgleiche Grundrechtsgefährdung vorliegt. Das ist etwa der Fall, wenn schon ein Gesetz selbst, indem es zu seiner Durchführung keinen entsprechenden Auslegungs- oder Entscheidungsspielraum mehr lässt, zu Dispositionen veranlasst, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.[11] Vor dem Hintergrund des langen Bestehens der Staatsleistungen kann ein Hinweis auf die Notwendigkeit langfristiger Planung, um mit der Entschädigung aus den Staatsleistungen zukunftsträchtig zu verfahren, zur Begründung einer solchen Gefährdung beitragen. Insoweit außerdem der Bund im Grundsätzegesetz den Ablösebegriff konkretisieren muss, indem er Grundsätze für die Entschädigung der Kirchen im Rahmen der Ablösung aufstellt und die Länder von diesen ggf. verfassungswidrigen Grundsätzen nicht abweichen dürfen, sind die Kirchen dann auch unmittelbar in dem durch Art. 138 I WRV geschützten Interesse an Entschädigung betroffen.
Gelingt diese Begründung der unmittelbaren Betroffenheit nicht, sind die Landesgesetzgebung und die entsprechenden Verwaltungsakte abzuwarten, die dann zunächst über den Verwaltungsrechtsweg anzufechten sind. Kommt es bis zu dessen Erschöpfung nicht zu einer Konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG, haben die Kirchen dann die Möglichkeit, gegen das letztinstanzliche Urteil Verfassungsbeschwerde zu erheben, durch welches sie nun unmittelbar betroffen sind und geltend machen, das zugrunde liegende Gundsätzegesetz sei verfassungswidrig.
In der Entscheidung über die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde der Kirchen, ob nun in Form der Rechtssatz- oder Urteilsverfassungsbeschwerde, wird es dann auf die Frage des Maßstabs für die Verfassungsmäßigkeit des Grundsätzegesetzes ankommen, vor allem hinsichtlich der Art und des Umfangs der Entschädigung. Diesbezüglich stehen sich im Wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber. Die eine hält eine Ablösung nach dem Äquivalenzprinzip für geboten, die andere eine angemessene Entschädigung für ausreichend. Beide Ansichten greifen zum einen auf die historische Auslegung des Begriffs der „Ablösung“ und den Materialien der Weimarer Nationalversammlung zurück, freilich mit unterschiedlichen Ergebnissen.[12] Diejenigen, die eine angemessene Entschädigung für ausreichend halten, ziehen zum anderen durch Analogie zur Enteignung nach Art. 14 III GG oder zur Sozialisierung nach Art. 15 GG den Maßstab des Art. 14 III GG heran.[13]
Es bleibt abzuwarten, ob die Klärung dieses Maßstabs im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde der Kirchen einer der Schritte sein wird, die noch vor Art. 138 I WRV liegen, bevor er sich endlich zur Ruhe setzen kann.
Fußnoten
↑1 | Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Auflage 2021, Rn. 160. |
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↑2 | BVerfGE 19, 129 (135); 19, 206 (218). |
↑3 | BVerfGE 42, 312 (322); 102, 370 (387). |
↑4 | BVerfGE 99, 100 (120). |
↑5 | Siehe etwa Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2018, Art. 138 WRV, Rn. 11 m. w. N. |
↑6 | Von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Auflage 2006, S. 287. |
↑7 | Korioth, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 94. EL Januar 2021, WRV Art. 138, Rn. 9, 12 m. w. N. |
↑8 | Siehe statt vieler Morlok, in: Dreier, GG-Kommentar, Art. 138 WRV, Rn. 13; vielfach aufgegriffen: „List einer konservativen Vernunft“, Isensee, § 35 Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdStKR, 2. Auflage 1994, Bd. I, S. 1007–1063 (1017). |
↑9 | Einen solchen bejaht P. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Auflage 2018, Rn. 513; a. A. Rozek, Ablösung der Staatsleistungen, in: Holzner/Ludyga (Hrsg.) Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts, Paderborn, 2013, S. 421–431 (429), unter Hinweis darauf, dass es dazu keinen Bedarf gäbe, weil bis zur Ablösung Bestandsschutz der Staatsleistungen bestehe. |
↑10 | Morlok, in: Dreier, GG, Art. 138 WRV, Rn. 11. |
↑11 | BVerfGE 16, 147 (159); 18, 1 (13); 43, 291 (386); Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 239. |
↑12 | Für das Äquivalenzprinzip: Die Weimarer Nationalversammlung sei einig gewesen, den Kirchen solle kein Schaden entstehen, vgl. Isensee, § 35 Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdStKR, Bd. I, S. 1007–1063 (1035); für angemessene Entschädigung: Man habe nur die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Kirchen nicht gefährden wollen, vgl. P. Unruh, Religionsverfassungsrecht, Rn. 527; in Fällen der Ablösung, die der Weimarer Nationalversammlung vor Augen gestanden hätten, sei auch kein voller Wertersatz geleistet worden, vgl. Droege, Staatsleistungen, S. 210 ff. |
↑13 | Siehe u. a. Rozek, Ablösung der Staatsleistungen, in: Holzner/Ludyga (Hrsg.) Entwicklungstendenzen, S. 421– 431 (425); P. Unruh, Religionsverfassungsrecht, Rn. 527; a. A. Isensee, § 35 Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdStKR, Bd. I, S. 1007–1063 (1035), der die Unterschiede zur Enteignung und Sozialisierung betont. |
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