Treaty Overrides im Religionsverfassungsrecht

01. 02. 2024

Inwieweit der Gesetzgeber an Verträge gebunden ist, die in vorherigen Legislaturperioden geschlossen wurden, ist eine Frage, die sich im Religionsverfassungsrecht wie im internationalen Steuerrecht gleichermaßen stellt. Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich des Steuerrechts festgestellt, dass sog. treaty overriding ein verfassungskonformer Weg ist, um sich von völkerrechtsvertraglichen Verpflichtungen zu lösen. Der Beitrag argumentiert, dass diese Rechtsprechung auch im Religionsverfassungsrecht anzuwenden ist – und dass dies dem Staat neue religionspolitische Möglichkeiten eröffnet.

Treaty Override Rechtsprechung des BVerfG

Der Gesetzgeber kann sich durch ein Gesetz bewusst und einseitig von einem völkerrechtlichen Vertrag lösen – so entschied das BVerfG 2015 und bestätigte damit die Verfassungsmäßigkeit sog. Treaty Overrides.[1] Damit klärte es einen zuvor im internationalen Steuerrecht anhaltenden Streit um die Bindungswirkung von Völkerrechtsverträgen. Begründet wurde das Ergebnis maßgeblich mit dem Demokratieprinzip.[2] Da völkerrechtliche Verträge nach Art. 59 II 1 GG einfacher Gesetzesrang zukomme, müsse es dem Gesetzgeber aufgrund des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori freistehen, dem Vertrag widersprechende Gesetze zu erlassen. Die Legislative könne nicht durch Abkommen, die in vorigen Legislaturperioden eingegangen wurden, gebunden sein. Auch die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes stehe dem, so das BVerfG, nicht entgegen. 

Übertragbarkeit auf das Religionsverfassungsrecht

Um die zeitliche Bindungswirkung von Verträgen herrscht auch im Religionsverfassungsrecht seit jeher Streit.[3] Die Problematik verschärft sich, wenn man bedenkt, dass viele religionsverfassungsrechtliche Verträge keine Kündigungsmöglichkeit und auch keine zeitliche Begrenzung enthalten, sodass unter Umständen eine „ewige“ Bindung droht. Daher stellt sich die Frage, ob die Treaty Override-Rechtsprechung des BVerfG auf Verträge zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften übertragbar ist. 

Eine solche Übertragbarkeit könnte insbesondere an dem aus Artt. 4, 140 GG hervorgehenden Kooperationsprinzip scheitern, welches ein freundschaftlich-kooperatives Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften vorsieht.[4] Aus diesem erwächst jedoch kein Anspruch auf einen Vertragsschluss mit dem Staat,[5] sodass daraus auch keine Pflicht zur Aufrechterhaltung von Verträgen mit Religionsgemeinschaften folgen kann. 

Des Weiteren gelten im Religionsverfassungsrecht auch der Paritäts- und der Neutralitätsgrundsatz.[6] Beide sprechen für eine Entflechtung von Vertragsverhältnissen, die in der Vergangenheit aus kulturell-geschichtlichen Gründen vorwiegend mit den katholischen und evangelischen Kirchen eingegangen und vor dem Hintergrund eines anderen Staats- und Kirchenverständnisses geschlossen wurden. Angesichts dessen gilt also im Religionsverfassungsrecht – auch für Konkordate, die als Völkerrechtsverträge zu qualifizieren sind[7] – der lex posterior-Grundsatz; der Kooperationsgrundsatz vermag es nicht, fundamentalen Setzungen des Demokratieprinzips Grenzen zu setzen. Ein religionsverfassungsrechtlicher Treaty Override ist also grundsätzlich möglich. 

Allerdings ist zu beachten, dass vor einer einseitigen Lösung von vertraglichen Bestimmungen durch den Staat, eine gemeinsame Lösungssuche wünschenswert ist, auch um die Glaubwürdigkeit gegenüber dem Vertragspartner zu wahren.[8] Des Weiteren setzen insbesondere das Verbot des Einzelfallgesetzes aus Art. 19 I GG sowie der rechtsstaatliche Vertrauensschutz nach Art. 20 III GG einem religionsverfassungsrechtlichen Treaty Override Grenzen. Letzterer dürfte aber grundsätzlich nicht verletzt sein, da wohl i. d. R. Bestimmungen für die Zukunft aufgehoben würden. Schließlich gilt auch das aus dem Rechtsstaatsprinzip erwachsende Willkürverbot, sodass mit der einseitigen Lösung vom Vertrag ein legitimer Zweck verfolgt werden muss und diese auch im Übrigen verhältnismäßig sein muss. 

Auswirkungen auf theologische Fakultäten, Konkordatslehrstühle und Staatsleistungen

Damit drängt sich die Frage auf, welche religionspolitischen Auswirkungen die Übertragbarkeit der Treaty Override-Rechtsprechung haben könnte. Zum einen sind die häufig vertraglich normierten[9] Bestandsgarantien theologischer Lehrstühle nicht mehr unumstößlich. Universitäten haben bereits vorgebracht, dass die Anzahl der Professoren, die aufgrund dieser Garantien beschäftigt werden müssen und die damit verbundenen Kosten in keinem ökonomisch sinnvollen Verhältnis zu den niedrigen Studentenzahlen an den theologischen Fakultäten stehen.[10] Auf diese Situation könnten die Länder einseitig durch einen religionsverfassungsrechtlichen Treaty Override reagieren.

Ähnliches ergibt sich im Hinblick auf die angesichts Art. 140 GG i. V. m.. 136 II WRV ohnehin bedenklich erscheinenden[11] Konkordatslehrstühle. Soweit deren Bestand vertraglich zugesichert ist, können die Länder sich von diesen Bestimmungen durch ein widersprechendes Gesetz lösen. Auch vertragliche nihil obstat Regelungen zu Konkordatslehrstühlen können so außer Kraft gesetzt werden. Anders als bei der Besetzung theologischer Fakultäten gilt bei diesen nämlich nicht das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus Art. 140 GG i. V. m.. Art. 137 III WRV.

Zudem könnten zukünftig Staatsleistungen i. S. d. Art. 140 GG i. V. m.. Art. 138 I 1 WRV von religionsverfassungsrechtlichen Treaty Overrides betroffen sein, denn auch solche beruhen teilweise auf vertraglichen Regelungen. Eine entschädigungslose Ablösung, wie sie teilweise gefordert wird,[12] ist jedoch weiterhin ausgeschlossen, da sie dem Ablösungsvorbehalt der Artt. 140 GG, 138 I 1 WRV[13] zuwiderlaufen würden. 

Allerdings könnte der Staat ein Gesetz erlassen, das bewusst im Widerspruch zu Art. 18 I des Reichskonkordats steht. Die Regelung sieht vor, dass die Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen i. S. d. Art. 138 I 1 WRV im freundschaftlichen Einvernehmen mit der katholischen Kirche aufgestellt werden müssen.[14] In diesem Fall stünde kein geschriebenes Verfassungsrecht in Form von Art. 138 I 1 WRV entgegen, da daraus keine Notwendigkeit zum freundschaftlichen Einvernehmen hervorgeht. Dies dürfte aus religionspolitischer Sicht interessant sein, weil 2021 ein Gesetzesvorschlag zur Ablösung der Staatsleistungen in den Bundestag eingebracht[15] wurde, bei dem auch diese Beteiligungspflicht diskutiert wurde.[16] Der Gesetzgeber könnte ein Grundsätzegesetz aufstellen, müsste dies aber nicht unbedingt im freundschaftlichen Einvernehmen mit den Kirchen tun (obwohl das selbstredend weiterhin angeraten scheint), weil Art. 18 I des Reichskonkordats für ihn aufgrund des lex posterior-Grundsatzes nicht zwingend bindend wäre. 

Mögliche Verschiebung der Verhandlungsmacht

Ob der Gesetzgeber von der Möglichkeit eines religionsverfassungsrechtlichen Treaty Overrides Gebrauch machen wird, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass er die Möglichkeit hat, sich durch ein Gesetz von vertraglichen Regelungen mit Religionsgemeinschaften zu lösen, auch wenn die Verträge keine Möglichkeit der ordentlichen Kündigung oder keine Befristung enthalten. Vor allem Regelungen, die eine Abstimmung mit den Kirchen verlangen, könnten davon betroffen sein. Die Treaty Override Rechtsprechung dürfte also die Verhandlungsmacht zugunsten des Staates verschoben haben. Auch auf Überkapazitäten an theologischen Fakultäten könnte so reagiert werden.

 

Dieser Beitrag erschien in der längeren Originalfassung als Emanuel V. Towfigh / Fabius Bonde, Einseitige Lösung von religionsverfassungsrechtlichen Verträgen durch den Gesetzgeber, NJW 2023 (Heft 52), S. 3769 ff., URL: https://beck-online.beck.de/Bcid/Y-300-Z-NJW-B-2023-S-3769-N-1.

Fußnoten

Fußnoten
1 BVerfGE 141, 1.
2 Zum Folgenden BVerfGE 141, 1 Rn. 39 ff.
3 Vgl. nur Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, 1970, S. 53.
4 BVerfGE 42, 312 (330 f.).
5 Unruh, ReligionsverfassungsR § 10 Rn. 351 ff.
6 Dreier/Morlok, GG, 3. Aufl. 2018, Bd. III, GG Art. 140 Rn. 40.
7 H. M., Dürig/Herzog/Scholz/Korioth, GG, Art. 140 Rn. 23 m. w. N.
8 Vgl. Anke, Die Neubestimmung des Staat-Kirche-Verhältnisses in den neuen Ländern durch Staatskirchenverträge, 2000, S. 184.
9 Weber, NVwZ 2000, 848 (850 f.).
10 Vgl. Frerk, Violettbuch Kirchenfinanzen, 2010, S. 121 ff.
11 Vgl. Vgl. BK-GG/Kästner, 220. EL 2023, GG Art. 140 Rn. 245.
12 Czermak, DÖV 2004, 110 (115).
13 BeckOK GG/Germann, 56. Ed. 15.08.2023, Art. 140 Rn. 123.
14 Art. 18 I des Reichskonkordats ist aus Paritätsgründen auch auf andere Religionsgemeinschaften anzuwenden, Dürig/Herzog/Scholz/Korioth, WRV, Art. 138 Rn. 11.
15 BT-Drs. 19/19273.
16  Vgl. Hense, 90 Jahre Reichskonkordat (Teil 3) – Reformbedürftigkeit des Reichskonkordats oder: „Concordata semper concordanda“?, https://www.experteninitiative-religionspolitik.de/blog/90-jahre-reichskonkordat-teil-3-reformbeduerftigkeit-des-reichskonkordats-oder-concordata-semper-concordanda/ (abgerufen am 27.01.2024).

Kommentare

Dieser Beitrag hat keine Kommentare.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie können gern den Beitrag kommentieren. Ihnen stehen maximal 600 Zeichen zur Verfügung. Die EIR-Redaktion behält sich die Veröffentlichung vor.