Was muss eine multidisziplinäre Religionspolitikberatung leisten?

08. 11. 2021

Religionspolitik bewegt sich in einem spannungsreichen Dreieck von religiösen Freiheitsrechten, Gefahrenabwehr und formativ auf Religionskulturen einwirkender Kooperation. Die zentrale Herausforderung für die Politik besteht darin, in diesem Dreieck gestaltend zu wirken, gesellschaftliche Dynamiken nachzuvollziehen, gar zu antizipieren, ohne die skizzierten Spannungen einseitig auflösen zu wollen – und zu können. Aus der multiperspektivischen Verschränkung ergeben sich einige Leitfragen.

I. Religionspolitik im Dreieck von religiösen Freiheitsrechten, Gefahrenabwehr und formativ auf Religionskulturen einwirkender Kooperation

Je pluraler eine Gesellschaft in religiös-weltanschaulicher Hinsicht ist, desto größer sind die Herausforderungen für die religionspolitische Governance. Wachsende Pluralität führt zu mehr Konfliktpotential. Das ruft den Staat als Ordnungsmacht auf den Plan. Dieser versucht, die Rechtsordnung als gesellschaftliche Friedensordnung durchzusetzen und Konflikte einzuhegen. Dabei ist er in seiner liberalen Verfasstheit auf Grundsätze religiös-weltanschaulicher Freiheit, Gleichberechtigung und Neutralität verpflichtet. Die religiös-weltanschaulichen Grundrechte bewahren Religionen und Weltanschauungen vor staatlicher Vereinnahmung und Verzweckung. Eine freiheitliche politische Ordnung ist aber auch auf „entgegenkommende“ Lebensformen (J. Habermas) , auf sinndeutende Institutionen, die das demokratische Ethos speisen und stützen, angewiesen. Insoweit achtet der Staat nicht nur auf die Rechtstreue religiöser Akteure. Auch die weitere Ausprägung der Religionskulturen ist ihm trotz seiner Neutralitätsverpflichtung nicht gleichgültig.
Religionspolitik bewegt sich damit in einem spannungsreichen Dreieck von religiösen Freiheitsrechten, Gefahrenabwehr und formativ auf Religionskulturen einwirkender Kooperation. Religionen und Weltanschauungen sind aus staatlicher Sicht immer zugleich Konfliktpotential, grundrechtlich geschützter Selbstzweck in gesellschaftlicher Freiheit und wertgeschätzte Ethosressource.

II. Multiperspektivische Verschränkung: Einige Leitfragen

Die zentrale Herausforderung für die Politik besteht dann darin, in diesem Dreieck gestaltend zu wirken, gesellschaftliche Dynamiken nachzuvollziehen, gar zu antizipieren, ohne die skizzierten Spannungen einseitig auflösen zu wollen – und zu können. Im Detail ist das ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Wissenschaftliche Politikberatung kann dabei helfen, aber nur, wenn sie selbst multiperspektivisch aufgestellt ist und verschiedene Disziplinen einbezieht. Nur dann gelingt es, wechselseitig blinde Flecken auszuleuchten. So kann man natürlich als Rechtswissenschaftler Aussagen zum geltenden Recht treffen, etwa zu verfassungsrechtlichen Grenzen religionspolitischer Spielräume. Doch politisch wie wissenschaftlich interessant wird es eigentlich erst jenseits der bloßen Rechtsauskunft. Dann stehen Fragen im Raum, bei denen die Gesellschafts-, Geistes- und Kulturwissenschaften in ihrer ganzen Breite einzubinden sind:
Wie geht man möglichst konstruktiv mit dem Normen- und Wertpluralismus um, der religiös-weltanschaulich heterogene Gesellschaften auszeichnet? Bis zu welchem Grad kann der Staat an welcher Stelle Freiräume gewähren (etwa gesteuert über die Religions- und Gewissensfreiheit), auf Besonderheiten Rücksicht nehmen und an welcher Stelle ist der allgemeinen Verbindlichkeit des Rechts Vorrang einzuräumen? Welche Auswirkungen hat dann welche Gestaltung für die gesellschaftliche Integration?
Oder: Was leistet das Recht, wenn in seinen Formen und Verfahren gesellschaftliche Anerkennungskämpfe ausgetragen werden? Wann kommt das Recht dabei an seine Grenzen? Welche sozialen Wirkungen hat es, wenn die Politik Religionskonflikte und Anerkennungskämpfe primär rechtsförmig austragen lässt? Welche Alternativen gäbe es?
Oder: Wie bekommt man Religionen und Weltanschauungen alleine begrifflich und konzeptionell so zu fassen, dass man dem Selbstverständnis der jeweiligen Akteure Genüge tut und jenseits aller Besonderheiten doch Verallgemeinerungen, auch normativer Art, gelingen?
Oder: Welche Interdependenzen zwischen Rechtsautoren, Rechtsanwendern und Rechtsadressaten bestehen im religionspolitischen Feld, wenn Recht Religions- und Weltanschauungskulturen prägt und verändert, aber immer auch das Umgekehrte gilt, also Religions- und Weltanschauungskulturen auch das Recht prägen und verändern. Welche Rückschlüsse lassen sich für eine intelligente Religionspolitik daraus ziehen?

Die letzten beiden Jahrzehnte haben auf dem Feld der Religionspolitik in Deutschland vor allem eines gezeigt: viel zu oft werden Diskussionen meinungsstark, aber urteilsarm ausgetragen. Unserer Gesellschaft würden Debatten – und Entscheidungen – guttun, die leidenschaftlich, aber weniger erregt geführt werden, die über Normen und Tatsachen besser informiert sind, die sich an präzise gefassten gesellschaftspolitischen Zielen orientieren. Ziele, die es gesellschaftlich auszuhandeln gilt. Die Experteninitiative Religionspolitik will dazu einen Beitrag leisten. Hoffentlich gelingt’s.

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