Im August 2024 ist in der Ukraine ein Gesetz in Kraft getreten, das es möglich macht, Religionsgemeinschaften zu verbieten, die mit einem administrativen Zentrum in Russland verbunden sind. Das Gesetz wird sowohl im Lande als auch in der internationalen Öffentlichkeit heftig diskutiert. Es richtet sich gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die historisch mit der Russischen Orthodoxen Kirche verbunden war, jetzt aber beansprucht, unabhängig zu sein. Der Konflikt hat zwei Dimensionen: Schränkt das Gesetz die Religionsfreiheit ein, und betrifft es die Ukrainische Orthodoxe Kirche?
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) ist eine der beiden großen orthodoxen Kirchen im Land, neben der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Beide stehen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander und erkennen sich gegenseitig nicht an. Der Entwurf des „Gesetzes zum Schutz der Verfassungsordnung im Bereich der Aktivität von Religionsgemeinschaften“[1], das Ende August 2024 verabschiedet wurde und in Kraft trat, wurde über viele Monate in der ukrainischen Öffentlichkeit als Gesetz „zum Verbot der UOK“ diskutiert. Der umfangreiche und nach Meinung vieler Juristen[2] inkonsistente Text verbietet die Tätigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), die als einzige explizit genannt wird, und von Religionsgemeinschaften, die mit ihr „affiliiert“ sind. Eine „religiöse Organisation“ kann durch Gerichtsbeschluss verboten werden, wenn die staatliche Religionsbehörde mittels eines Gutachtens festgestellt hat, dass sie unter die vom Gesetz definierten Bestimmungen fällt. Mit „religiöse Organisation“ sind einzelne lokale Einheiten gemeint, da das ukrainische Religionsgesetz keine übergreifenden Religionsgemeinschaften kennt. Vielmehr ist jede Gemeinde, Diözesanverwaltung, theologische Lehranstalt und jedes Kloster einzeln registriert, sodass jede für sich verboten werden müsste.
Das Gesetz ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Die Parlamentarier, die sich dafür eingesetzt haben, berufen sich auf die „spirituelle Unabhängigkeit“[3] des Landes und auf die nationale Sicherheit. Allerdings ist es nach dem „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“[4] der UN nicht zulässig, aus dem im Gesetz genannten Grund (nämlich der Zugehörigkeit zu einer anderen Religionsgemeinschaft) die Religionsfreiheit einzuschränken. Entsprechend hat auch der Hohe Kommissar der UN für Menschenrechte, Volker Türk[5], ebenso wie andere Menschenrechtsorganisationen[6] seine Besorgnis über das Gesetz zum Ausdruck gebracht.
Zu den Problemen des Gesetzes gehört auch, dass die UOK nach den Argumenten der Befürworter verboten werden soll, weil einzelne ihrer Mitglieder oder Würdenträger Vergehen gegen den ukrainischen Staat begangen haben – was zweifellos geschehen ist. Diese Personen wurden und werden nach den bisher schon existierenden Gesetzen bestraft. Vergehen von Individuen rechtfertigen jedoch nicht eine Sanktionierung der Organisation, der sie angehören. Allein eine spirituelle oder administrative Verbindung der Kirche zur ROK rechtfertigt jedoch nach keiner Rechtsnorm ein Verbot.
Der Gesetzestext bringt auch eine Definition der Vorstellung von der „Russischen Welt“, die als „Ideologie“ bezeichnet wird. Ist schon umstritten, ob man das diffuse und teils widersprüchliche Geflecht von Anschauungen, das sich unter diesem Begriff finden lässt, als Ideologie bezeichnen kann, so ist die Definition des Gesetzes kaum dazu geeignet, Rechtssicherheit zu schaffen. Sie ist ebenfalls widersprüchlich und so vage formuliert, dass zahlreiche Überzeugungen oder Auffassungen darunter subsumiert werden können. Das Gesetz eröffnet jedoch auch die Möglichkeit, Religionsgemeinschaften zu verbieten, die diese Ideologie verbreiten.
Es zeigt sich also, dass das besagte Gesetz nicht dazu geeignet ist, den Zweck zu erfüllen, für den es geschaffen wurde. Es bietet den Behörden zahlreiche Möglichkeiten, Religionsgemeinschaften zu verbieten, benachteiligt die vielen patriotisch eingestellten Priester und Gemeindemitglieder der UOK und missachtet rechtsstaatliche Grundsätze. Die ukrainischen Behörden haben es der „Venedig-Kommission“ des Europarates ebenso wenig wie dem „Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte“ der OSZE vorgelegt;[7] es ist davon auszugehen, dass es auch dort auf Kritik gestoßen wäre. Wenn die ersten Verbote ergangen sind, wird das Gesetz sicherlich vor internationalen Gerichten angefochten werden, wohl mit guten Erfolgsaussichten.
Neben der Frage nach der Qualität und Anwendbarkeit des Gesetzes wird auch diskutiert, ob es die UOK überhaupt betrifft. Die UOK spricht dem Staat nicht das Recht ab, sich mit einem solchen Gesetz gegen russische Einflüsse zur Wehr zu setzen, behauptet aber, dass es auf sie nicht zutrifft. Die Kirche hatte sich im Mai 2022 für „unabhängig und selbstständig“ von Moskau erklärt. Diese Begrifflichkeiten kennt das orthodoxe Kirchenrecht nicht, die UOK befindet sich also in einer kanonischen Grauzone. Sie behauptet, alle Verbindungen mit der ROK abgebrochen zu haben und ihr Zentrum in Kyiv zu haben.
Die staatliche Religionsbehörde bestreitet das allerdings und verlangt von der UOK sehr konkrete Schritte, etwa die offizielle Benachrichtigung der anderen orthodoxen Kirchen, als Nachweis für die völlige Unabhängigkeit. Die Behörde stützt sich dabei auf ein Gutachten, das sie in Auftrag gegeben hat und für das sie die Gutachter selbst ausgesucht hat – die meisten von ihnen waren aktive OKU-Mitglieder und hatten sich schon vorher für ein Verbot der UOK ausgesprochen; eine angemessene Teilnahme der UOK an der Gutachterkommission wurde abgelehnt.[8]
Tatsächlich gibt es nach den Änderungen des Status und der liturgischen Praxis keinen Nachweis dafür, dass die UOK noch Teil der ROK ist. Frühere Verbindungen, etwa die Mitgliedschaft des Metropoliten von Kyiv im Synod der ROK, werden im Statut nicht mehr genannt. Es ist nicht erkennbar, dass es irgendeine Form von Kommunikation zwischen der UOK und der ROK gibt – wenn dem so wäre, hätten die ukrainischen Behörden die entsprechenden Nachweise als Beleg für ihre These veröffentlicht. Die UOK hat nach Mai 2022 angefangen, Gemeinden im Ausland zu gründen. Das war ihr bisher verwehrt; ihre Gläubigen waren auf Gemeinden der ROK angewiesen, denen durch die Neugründungen eine Konkurrenz entstanden ist. Das Oberhaupt der UOK zelebriert seither den Gottesdienst wie das Oberhaupt einer autokephalen Kirche: Er kommemoriert den russischen Patriarchen, aber in einer Reihe mit denen der anderen orthodoxen Kirchen, und es wird für ihn nicht mehr als „unser großer Herr und Vater“ gebetet.
Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen müssten die ukrainischen Behörden der UOK nachweisen, dass sie noch Teil der ROK ist. Das haben sie nicht gemacht; die von ihnen verwendete Argumentation, dass sie nicht autokephal sei, bedeutet die Anwendung kirchenrechtlicher Grundsätze im staatskirchenrechtlichen Bereich, was nicht zulässig ist. Die konkreten Forderungen an die UOK, wie sie gegenüber der ROK und den anderen orthodoxen Kirchen zu verfahren habe, überschreiten die Kompetenz staatlicher Behörden.
Bedeutet das Gesetz eine Einschränkung der Religionsfreiheit? Es sieht eine neunmonatige Frist vor, die im Mai 2025 abläuft – vorher können keine Gemeinden verboten werden. Damit soll die UOK unter Druck gesetzt werden, um bis dahin die Vorgaben zu erfüllen, die ihr staatlicherseits gemacht werden. Unter Gesichtspunkten der Religionsfreiheit ist das sicherlich ein wenigstens sehr unglückliches Vorgehen. Noch schlimmer ist allerdings der gesellschaftliche und politische Schaden, den das Gesetz und die staatlichen Maßnahmen mit sich bringen: In einer Zeit größter Bedrohung für das Land wird die Gesellschaft gespalten statt geeint, der russischen Propaganda wird ein Thema gegeben, das sie reichlich ausnutzt, und in konservativen Kreisen der USA, dem wichtigsten Verbündeten der Ukraine, wird diskutiert, ob man ein Land weiter unterstützen solle, das sich anschickt, Kirchen zu verbieten. Eine kluge Politik in gefährlichen Zeiten sieht anders aus.
Fußnoten
↑1 | Der Originaltext des Gesetzes ist unter https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/3894-20#Text (abgerufen am 20.11.2024) abrufbar; eine englische Übersetzung findet sich unter: https://www.unifr.ch/orthodoxia/de/assets/public/files/Dokumentation/Anderson/LAW%203894%20OF%20UKRAINE.pdf (abgerufen am 20.11.2024). |
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↑2 | Der US-amerikanische Anwalt Peter Anderson kommt zu dem Schluss: „My conclusion is that 3894 [die offizielle Nummer des Gesetzes, Th. B.] is a bad law.“: Zentrum St. Nikolaus: Peter Anderson berichtet aus der orthodoxen Welt, 24.12.2024, unter: https://www.unifr.ch/orthodoxia/de/dokumentation/anderson/ (abgerufen am 20.11.2024). Die am International Center for Law and Religion Studies an der Brigham Young University (USA) tätigen Juraprofessoren Dmytro Vovk und Elizabeth A. Clark urteilen, das Gesetz „does not comply with legally-binding international standards of freedom of religion or belief.“: Forum 18: Ukraine: Law banning Ukrainian Orthodox Church about to enter force, 17.09.2024, unter: https://www.forum18.org/archive.php?article_id=2932 (abgerufen am 20.11.2024). |
↑3 | Auch Präsident Zelensky argumentiert mit dem Begriff seit Ende 2022. |
↑4 | United Nations: International Covenant on Civil and Political Rights, unter: https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/international-covenant-civil-and-political-rights (abgerufen am 20.11.2024). |
↑5 | „The Law raises concerns regarding its compliance with international human rights standards“: Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte: 40th Periodic Report on the Human Rights Situation in Ukraine, Nr. 115, unter: https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/countries/ukraine/2024/Ukraine-OHCHR-40th-periodic-report.pdf (abgerufen am 20.11.2024). |
↑6 | Etwa Human Rights Watch: Ukraine: New Law Raises Religious Freedom Concerns, 30.10.2024, unter: https://www.hrw.org/news/2024/10/30/ukraine-new-law-raises-religious-freedom-concerns (abgerufen am 20.11.2024). |
↑7 | Hierbei ist anzumerken, dass die Ukraine in der Vergangenheit beiden Gremien eine ganze Reihe von Gesetzesvorhaben zur Prüfung vorgelegt hat, siehe Council of Europe Venice Comission: Suchbegriff „Ukraine“, unter: https://www.venice.coe.int/webforms/documents/?country=47&year=all (abgerufen am 20.11.2024) und LEGISLATIONLINE: Suchbegriff „Ukraine“, unter: https://legislationline.org/search?q=lang%3Aen%2Csort%3Apublication_date%2Ccountry%3A120%2Cpage%3A1 (abgerufen am 20.11.2024). |
↑8 | Eine ausführliche Analyse der methodischen Mängel des Gutachtens habe ich in einem „Assessment of the ‚Experts’ Commission Report‘ on the Ukrainian Orthodox Church“ angestellt, siehe Thomas Bremer (2023): Assessment of the ‚Experts’ Commission Report‘ on the Ukrainian Orthodox Church, unter: https://dialogtut.online/wp-content/uploads/2023/09/review-uoc-report-2.pdf (abgerufen am 20.11.2024). |
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